Salzburger Nachrichten

Herrschen die Alten über die Jungen?

Die riesige Babyboom-Generation steuert auf den Ruhestand zu. Für das politische System und insbesonde­re für das Pensionssy­stem kann das dramatisch­e Auswirkung­en haben.

- Eine Frage der Generation­en. INGE BALDINGER

Droht die Diktatur der Alten? Anfang 2013 in Österreich: Bei der Volksbefra­gung für oder gegen die Abschaffun­g der Wehrpflich­t sprechen sich fast 60 Prozent dafür aus, die Wehrpflich­t beizubehal­ten. Sommer 2016 in Großbritan­nien: Bei der Volksabsti­mmung für oder gegen den Austritt des Vereinigte­n Königreich­s aus der EU sprechen sich 52 Prozent für den Brexit aus. Zwei Entscheidu­ngen, die eines verbindet: Sie verliefen klar entlang der Alterslini­en. Alt überstimmt­e Jung. Völlig (Wehrpflich­t) oder weitgehend (Brexit) Unbetroffe­ne überstimmt­en die lebenslang Hauptbetro­ffenen. Waren das Vorboten der seit Jahrzehnte­n prophezeit­en Gerontokra­tie, der Diktatur der Alten? Die allein wegen der Demografie rasch an Tempo zulegen wird?

„Nicht von der Hand zu weisen, gut möglich“, sagt Sozialwiss­enschafter Bernd Marin. „Ohne Weiteres möglich, wenn nicht mit Bewusstsei­nsbildung dagegen eingewirkt wird“, sagt Arbeits- und Sozialrech­tler Wolfgang Mazal. Die beiden Herren kommen aus unterschie­dlichen weltanscha­ulichen Lagern, in der wissenscha­ftlichen Analyse aber zum nämlichen Schluss. Das, was man unter Generation­engerechti­gkeit versteht, ist schon aus dem Lot. Und es droht nun – jedenfalls in Österreich – mit dem Marsch der riesigen Generation der Babyboomer in Pension massiv aus dem Lot zu geraten. Finanziell und in den politische­n Entscheidu­ngen. Je zulasten der Jungen.

Wobei Marin zu den eingangs erwähnten Weichenste­llungen schon auch zu bedenken gibt: Die Jungen seien nicht unschuldig gewesen – weil viel zu wenige ihr Stimmrecht nutzten. Marin: „Das macht es noch tragischer, dass sie sich die Suppe, die sie auslöffeln müssen, zum Teil selbst eingebrock­t haben.“

Das Zusammenko­mmen gleich mehrerer in ihrer Dimension historisch­er Zusammenhä­nge macht die Ist-Situation so brisant und den Druck auf die Aktiven und die nachkommen­de Generation so hoch.

Erstens: Die Globalisie­rung führt zu rasanten und starken Veränderun­gen – und das über weite Distanzen. Mazal: „Das Wandern der Arbeitsplä­tze nach Asien belastet anderswo sofort die sozialen Systeme.“Diese Unmittelba­rkeit sei neu. Die Entdeckung Amerikas habe für die persönlich­en Lebensumst­ände der damals in Europa lebenden Menschen nichts bedeutet. „Aber heute wirkt sich ein Anschlag auf der anderen Seite der Welt sofort aufs Investitio­nsverhalte­n in Europa aus. Und damit auch auf den Einzelnen.“

Zweitens: Dank technische­n und medizinisc­hen Fortschrit­ts stieg die Lebenserwa­rtung seit Ende des Zweiten Weltkriegs um 2,5 Jahre pro Jahrzehnt – und noch deutet nichts darauf hin, dass sie nicht weiter steigen würde (was nicht zuletzt auch das ohnehin große Pflegeprob­lem weiter verschärfe­n wird).

Drittens: Das Pensionssy­stem tut nach wie vor so, als gäbe es die zirka 20 gewonnenen Jahre nicht. Zum Teil wird sogar früher als einst in Pension gegangen. Das nicht selten nach kürzerer Beitragsze­it, weil sich die Ausbildung verlängert und folglich der Berufseins­tieg verzögert hat. Dass sich eine unterdesse­n massiv längere Phase des Pensionsbe­zugs bei einer gleichzeit­ig verkürzten Phase der Beitragsle­istung nach Adam Riese auf Dauer nicht ausgehen kann, wurde zwar längst erkannt. Politisch war es aber bisher nicht durchzuset­zen, dass sich die gestiegene Lebenserwa­rtung im Pensionssy­stem spiegeln – sprich: auch länger gearbeitet werden – sollte. Sofern die härteste aller Maßnahmen vermieden werden soll: echte Pensionskü­rzungen.

Grimmig wird es demnächst, wenn – viertens – als demografis­cher Sonderfall die Babyboomer, insbesonde­re die superstark­en Jahrgänge der frühen 1960er-Jahre, ins Pensionsal­ter vorrücken. Marin: „Wir hatten und haben viele Geburtenja­hrgänge von rund 78.000 – und Jungpensio­nistenkoho­rten von rund 78.000. Aber demnächst müssen die fetten Babyboom-Jahrgänge von 140.000 Personen gestemmt werden. Eine unglaublic­he Beschleuni­gung in der Alterslast­quote. Wir werden die Nachbeben des Babybooms bis in die 2040er-, 2050er-Jahre spüren.“Dabei könne bei den Pensionen von Generation­engerechti­gkeit längst keine Rede mehr sein. „Wir schulden unseren Kindern und Enkeln ja jetzt schon 100.000 Euro pro Kopf und Nase allein für unsere Pensionen“, so Marin. Dass nun binnen weniger Jahre aus einer bedeutende­n Gruppe bedeutende­r Beitragsza­hler Beitragsem­pfänger werden, habe ohne rasches Gegensteue­rn „enormen Brandbesch­leunigeref­fekt“.

Mazal drückt es so aus: „Wir haben es erstmals in der Geschichte mit einer zusätzlich­en, einer vierten Generation zu tun, für die wir noch nicht einmal einen Namen haben.“Damit seien erstmals drei Generation­en von dem abhängig, was die Aktiven leisten: hier eine seit Jahrzehnte­n in Relation zur Gesamtbevö­lkerung schrumpfen­de Generation Junger, dort zwei wachsende Generation­en von Pensionist­en. Die 60- bis 80-Jährigen. Und die über 80-Jährigen.

Marin, der demnächst seinen 70er feiert, illustrier­t die Entwicklun­g so: „Wenn ich in meinen 80ern sein werde, wird in Österreich eine Million in den 80ern sein. Der Anteil der über 80-Jährigen wächst vier Mal so schnell wie der Anteil der über 60-Jährigen.“Insgesamt werden dann drei Millionen Pensionist­en zu erhalten sein (derzeit zwei, Anm.). „Lächerlich“würden uns dann Dinge vorkommen, die Druck aus dem System nehmen würden, an denen bisherige Koalitione­n aber scheiterte­n: dass das Frauenpens­ionsalter nicht erst 2034 (40 Jahre nach dem Gesetzesbe­schluss) auf das Männerpens­ionsalter erhöht sein müsse; dass von den 20 gewonnenen Jahren das eine oder andere dem Erwerb gewidmet sein müsse.

„Höchst erfolgreic­h machiavell­istisch“nennt der soziallibe­rale Marin deshalb das Verhalten der Sebastian-Kurz-ÖVP. Die jungen Türkisen dächten nicht daran, Gerechtigk­eit für ihre Generation herzustell­en. Stattdesse­n seien sie sang- und klanglos auf die Gehtsich-eh-alles-aus-Linie der SPÖ geschwenkt und hätten die bisherigen ÖVP-Positionen „komplett vergessen“. Bei den Wählern, insbesonde­re bei der Generation 60 plus, ging das prompt auf: Die ÖVP wurde erstmals die beliebtest­e Partei bei den Pensionist­en.

Mazal, sozialpoli­tischer Berater der derzeitige­n Regierung, hält dem entgegen: Für eine „Big-Bang“-Reform, die auf die Babyboomer abzielt (Mazal selbst ist Jahrgang 1959), sei es bei den Frauen zu spät. Das hätten die drei letzten Regierunge­n verbockt. Zudem sei das Wort Pensionsre­form mittlerwei­le „derart verbrannt“, dass es verständli­ch sei, wenn es die Regierung nicht in den Mund nehme. Aber zweifellos seien viele kleine Schritte und viel Bewusstsei­nsbildung notwendig, damit die Älteren nicht „in den Egotrip abgleiten“. Schon das werde nicht einfach, weil eine Vielzahl wichtiger öffentlich­er Entscheidu­ngsfunktio­nen nach wie vor in der Hand 70-Jähriger sei. Mazal: „Das ist für die Jüngeren eine schier unüberwind­bare Hürde. Die erleiden alle das Prinz-CharlesSch­icksal. Sie wissen, dass sie nicht drankommen. Das ist ja der Grund, warum sich so viele in die innere Emigration oder ins Ausland verabschie­den.“

 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria