Nationalismen sind der Tod der Union
Die Europäische Union wird von gleich drei gefährlichen Entwicklungen bedroht, die sie zu ignorieren scheint. Stattdessen befasst sie sich mit dem falschen Problem.
Die uns bekannte Weltordnung bröckelt an allen Ecken und Enden. Damit ist sowohl jenes Netzwerk internationaler Beziehungen gemeint, das seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa eine unvergleichliche Periode von Frieden, Sicherheit und Wohlstand geschaffen hat, wie die enge Bindung dieses Kontinents an die USA. Amerika spielt dabei aus mehreren Gründen die zentrale Rolle.
Die USA waren bisher unverzichtbarer Garant von Europas Sicherheit.
Amerikanische Innovationskraft ist wichtiger Treibsatz jener Entwicklungen, auf denen der Fortschritt von Technologien basiert, die das Leben von Millionen und Abermillionen von Menschen (meist) positiv verändert haben.
Amerikas schiere Wirtschaftskraft ist schließlich eine wesentliche Triebkraft ökonomischer Prozesse in der ganzen Welt. Das sieht man vor allem auch daran, dass eine Krise der US-Wirtschaft nur allzu leicht eine Krise rund um den Globus nach sich zieht.
Kein Wunder also, dass nicht nur, aber vor allem Europas Politik und Gesellschaft von den Ausläufern jedes politischen Bebens in Washington erschüttert werden – manchmal sind die Erschütterungen diesseits des Atlantiks sogar stärker spürbar als im Epizentrum des politischen Bebens. Wenn also der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika sich in einem Anfall nationalistischen Wahns von Europa abwendet, dann gerät die europäische Welt leicht aus den Fugen.
Russlands nationalistische Politik hat als Europas großer Nachbar (wenn auch mit Weißrussland und der Ukraine als Puffer) enormen Einfluss auf das Geschehen hier in Europa. Einerseits als Lieferant wichtiger Rohstoffe, viel mehr noch aber als Größe, die europäische politische Entscheidungen beeinflussen kann. Moskau hat sich nach einer Phase der Ohnmacht wieder einen Platz am Tisch der Großmächtigen erobert. Das war teilweise möglich wegen amerikanischen Desinteresses, teilweise wegen Europas Unvermögen, dem großen Nachbarn offen und stark gegenüberzutreten. In jüngster Zeit aber schaut Amerikas Politik gegenüber Moskau freilich dank Donald Trumps aus wie die eines Vasallen, nicht die eines Gegenspielers. Und in Europa mehren sich Stimmen, die in Russland den „natürlichen Verbündeten“Westeuropas sehen wollen. Die Vertreter dieser Idee ignorieren freilich die Tatsache, dass sie sich dabei mit einem Autokraten ins Bett legen, der keine Hemmungen kennt, Opposition brutal zu unterdrücken. Damit und mit der Abwendung Amerikas von Europa rücken aber auch Drohungen gegen die baltischen Staaten bedenklich in die Nähe jenes asymmetrischen Krieges, den Russland derzeit in der Ostukraine übt.
Schließlich droht auch innerhalb der Europäischen Union ein gefährlicher innerer Feind. Der Pendelschlag von der seit Jahrzehnten gewachsenen überregionalen, zwischenstaatlichen, ja manchmal sogar supranationalen Solidarität hin zur nationalistischen Eigenbrötelei wird mehr und mehr spürbar. Es sind aber nicht nur polnische, ungarische und tschechische Regierungspolitiker, die sich nationalistisch gebärden, die aber gern die Hand aufhalten, wenn ihre Länder von der EU-Zentrale in Brüssel Subventionen erhalten, die ihren Ländern eine erfolgreichere Wirtschaft und einen höheren Lebensstandard sichern. Auch in den meisten anderen EU-Mitgliedsstaaten erstarken jene Bewegungen, die emotional und intellektuell den Rückzug auf nationale Egoismen einer gemeinsamen Erfolgsstrategie vorziehen.
Dabei fehlt es nicht an grotesken Allianzen dieser Politiker. Italiens Lega Nord feierte Erfolge bei den Wahlen mit denselben fremdenfeindlichen Schlagworten, mit denselben AntiMigrations-Slogans wie zum Beispiel Ungarns Regierungspartei Fidesz. Wenn es aber darum geht, Italien solidarisch zu unterstützen, indem man ein paar dieser bedauernswerten Menschen aufnimmt, die an die Küsten des Landes geschwemmt wurden, dann ist Ungarn ganz, ganz leise.
Bemerkenswert ist auch, wie sehr gerade diese nationalistischen Parteien überall in Europa ihren Machtanspruch anmelden. Selbst wenn sie weniger als ein Drittel der Stimmen erhalten, nehmen sie für sich in Anspruch, sie verträten „das Volk“.
Als praktisches Vehikel dieses Machtanspruchs heizen sie alle die Angst vor Migration an, selbst dann, wenn kaum noch Flüchtlinge nach Europa kommen. Damit lenken sie einen Großteil politischer Energie auf ein Problem, das zusehends kleiner wird, statt sich mit den echten Bedrohungen für Europa zu befassen: dem russischen Großmachtstreben und Amerikas Abwendung von Europa.
Europas Politiker wären gut beraten, wollten sie stattdessen bessere Wege zu mehr Integration finden, zu mehr Gemeinsamkeit, zu einem internen Ausgleich von Lasten und Bedürfnissen, statt ihre nationalen Süppchen zu kochen. Wir brauchen mehr Europa, nicht weniger.