Herr, vernimm mein Schreien
Der erste Abend der Salzburger Festspiele 2018 birgt den Leidensweg Christi als Stationendrama zwischen Fels und Marmor, zwischen Penderecki und Pasolini. Ein Erlebnisbericht.
Ein Provokateur findet zu tiefem Humanismus
SALZBURG. Da steht er nun auf der Bühne der Felsenreitschule und nimmt die Ovationen eines enthusiasmierten Publikums entgegen: Krzysztof Penderecki, 84 Jahre alt und der Schöpfer eines der gewaltigsten Sakralwerke der jüngeren Musikgeschichte.
Ein halbes Jahrhundert ist vergangen, seit die „Lukas-Passion“des polnischen Komponisten 1966 im Dom zu Münster uraufgeführt worden ist. Am Freitagabend wirkt das Werk als idealer Auftakt der diesjährigen Salzburger Festspiele, deren „Ouverture spirituelle“im Zeichen der Passion steht. Dieses monumentale Passionsspiel konzertanter Art – und in lateinischer Sprache – verlangt weit mehr als 200 Mitwirkende, darunter allein eine Hundertschaft an Chorsängern. Und wie fesselnd verwandelt der Philharmonische Chor Krakau des Volkes Zorn in Töne, besser: geräuschhafte Klänge: „Crucifige, crucifige illum“, flüstert, murmelt, zischt es aus dieser vielgestaltigen Masse, um dann mit einer klaren Stimme das Todesurteil zu fällen.
Nicht nur in dieser Schlüsselszene, da Jesus vor Pilatus steht, entfaltet sich die volle dramatische Qualität dieses Oratoriums. Der Leidensweg Christi ist in knapp 70 Minuten Spieldauer auf das Wesentliche reduziert. Der polnische Schauspieler Sławomir Holland rezitiert Teile des Lukas-Evangeliums aus der einzigen noch nicht zugemauerten Arkade in der bereits für „Salome“vorbereiteten Felsenreitschule, mit dem slawischen Zungenschlag eines Johannes Paul II.
Moderne-Fachkraft Sarah Wegener setzt die ganze Palette an Dynamik und Ausdruck ihrer Sopranstimme im „Domine, quis habitabit“ein, während der Bass von Matthew Rose das „Iudica me“durchdringt – jede Arie ein Wirkungstreffer.
Bariton Lucas Meachem wiederholt das „Deus meus“wie ein Leitmotiv, in das der Chor mit der Wucht eines apokalyptischen Sturms einbricht: „Lass mein Rufen in deine Ohren dringen / Herr, vernimm mein Schreien“.
Kent Nagano steht im Auge dieses Sturms und ordnet vom Dirigentenpult aus die Klangwogen. Einzig seiner Zeichengebung ist es anzumerken, welch Vielfalt an Kompositionstechniken wie Serialität, Zwölftonmusik oder Aleatorik Pendereckis Werk enthält. Was beim Hörer indes ankommt, ist eine packende, sinnlich wahrnehmbare Musik.
Das Orchestre symphonique de Montréal ist vor allem in den Zwischenspielen gefordert, wenn sich die Orchesterflächen in filigranem Stimmengewirr entladen. Das Zentrum der Aufführung bilden dennoch die Chorsänger, etwa die Knaben des Warsaw Boys’ Choir, denen die Anverwandlung der Worte des Erlösers am Kreuz vorbehalten ist: „Es ist vollbracht“. Zuvor, im „Stabat mater“, schöpft der „große“Chor aus Krakau auch aus den resignativen Klängen der Gottesmutter am Kreuz karge, farblose Prägnanz. Einzig der strahlende E-Dur-Akkord der finalen Erlösung bleibt rätselhaft, so unvermittelt dringt er in das Klangbild ein.
Nach diesem seltenen Klangereignis im rauen Fels führt der Weg über den glatten Marmorboden der Kollegienkirche, die als Schauplatz einer spätabendlichen Filmvorführung dient. In zeitlicher Nähe zur Passionsvertonung des gläubigen Avantgarde-Komponisten Penderecki arbeitete der ungläubige Humanist Pier Paolo Pasolini an seiner Interpretation des Leidenswegs Christi. Sein Schwarz-Weiß-Klassiker „Il Vangelo secondo Matteo“aus dem Jahr 1964 entfaltet in der Kirchenakustik eine ganz eigene Wirkung. Die ruhige Bildsprache, die nüchterne Erzählweise zeitigt eine geradezu meditative Wirkung – begleitet von Klängen aus Bachs „Matthäus-Passion“. Der junge, charismatische Enrique Irazoqui stellt Jesus als unbeugsamen Kämpfer des Widerstands dar, oftmals über Minuten in ikonischer Nahaufnahme ausgeleuchtet. Nur die deftigeren Episoden rund um Salome und Judas deuten Pasolinis Provokationskunst an. Ansonsten konzentriert sich die Kamera auf Gesichter und Mimik, während sie die Verhandlung vor Pilatus mit wackeliger Handkamera aus der geschützten Perspektive des zornigen Volkes mitverfolgt.
Es ist bereits nach Mitternacht, als die Hunderten verbliebenen Besucher die Kollegienkirche in aller Stille verlassen. Kein blendendes Eröffnungsfeuerwerk hat sie ergriffen, sondern ein tief nach innen wirkendes Erlebnis aus Klang und Bild.