„Ein Kompromiss ist immer der Feind der Kunst“
Der Dirigent Kent Nagano erzählt von kulturellen Prägungen, die auch auf den Klang eines Orchesters abfärben.
Kent Nagano dirigiert bei den Salzburger Festspielen zwei Werke, die zeitgleich entstanden sind: Henzes Oper „The Bassarids“und Pendereckis „Lukas-Passion“.
SN: Neue Musik aus der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre: Sind wir heute dafür wieder neu empfänglich? Kent Nagano: Ich erinnere mich, dass beide Werke in meiner Schulzeit, als sie neu waren, kräftige Impulse ausgelöst haben. Sie brachten neue Ideen, frische Stimmen und hatten, jedes für sich, durchaus eine gewisse Popularität. Von den späten 1960er-Jahren bis Ende der 1970erJahre wurde Penderecki viel gespielt. Dann aber kam ein Werk wie die aufwendige „Lukas-Passion“nicht so oft wieder. Es ist also eine schöne Gelegenheit, das Werk heute wieder zu Gehör zu bringen.
SN: Inwieweit kommt Ihr Orchester aus Montreal, im Gegensatz zu europäischen, aber auch amerikanischen Traditionen, aus einer anderen Klangkultur? Quebec ist jene kanadische Provinz, die stark von der europäischen Kultur geprägt wurde. Durch die Geschichte hat Quebec eine enge Bindung an Europa, was sich auch in der sprachlichen Vielfalt (französisch, italienisch, deutsch, englisch) manifestiert. Alle diese Sprachen sind präsent und lebendig bis heute. Und auch die aktuellen Bindungen sind so stark, dass ich keine Unterschiede merke, wenn ich, von Europa kommend, in Quebec lande. Die Identität kommt aus dieser vielsprachigen, multinationalen Bindung. Auch der Humor, die Form der Ironie, die Streitkultur sind europäisch konnotiert.
Quebec ist wie ein Mosaik, das aus vielen Einzelteilen ein harmonisches Bild ergibt. Das hat durchaus Einfluss auf das Musizieren, weil man spüren kann, dass zwar der brillante technische und virtuose Aspekt, gemeinhin ein amerikanisches Merkmal, klar erkennbar ist, dass man über Musik aber auf eine tiefsinnige Art sprechen kann: über Texturen, Farben, Sehnsucht, Ausdruck, komplexe Emotionen. Das erlaubt uns, sozusagen mit Musik zu malen und in europäischem Sinn gemeinsam zu atmen.
SN: Spüren Sie im Orchester die zunehmende Globalisierung der Klangkultur(en)? Wir haben im Orchester zwar nummerisch Musikerinnen und Musiker aus zwanzig Nationen, aber 85 Prozent des Ensembles kommen aus Quebec, und so ist auch der Klang harmonisch, beeinflusst von der französischen Art und Sprache. Es ist durchwegs der paneuropäische Einfluss zu spüren. Das ist anders als in den USA. Dort spricht man gerne vom Melting Pot, dem Schmelztiegel. Immigranten vergessen binnen Kurzem die eigene Identität. Das ist in meiner Familie nicht anders; schon meine Eltern haben kaum noch Japanisch gesprochen, in unserer Generation ist das vollständig verloren. In Quebec aber fühlt man europäisch, besinnt sich immer auf die Wurzeln.
SN: Ist auch das Publikum offener? Wir sollten das Publikum nie unterschätzen. Heute kommt es in Konzerte, weil es neugierig ist. Und auch die soziale Funktion spielt eine große Rolle. Ich glaube, dass das Publikum immer auf höchste Qualität reagieren wird. Man muss es nur ehrlich und mit Qualität überzeugen. Und wir sollten als Künstler keine Kompromisse eingehen. Ein Kompromiss ist der Feind der Kunst. Gegen den Rat meiner Marketingabteilung haben wir beispielsweise einen Boulez-Zyklus veranstaltet, das war wie ein Durchbruch. Die Konzerte waren voll mit jungem Publikum, das wir noch nie gesehen haben. Die Generationen mischten sich und es gab tolle Diskussionen.