Aus dem Leben und der Liebe fliehen
Ein Sohn begibt sich auf die Spuren seiner Eltern und muss seine Erinnerungen revidieren.
Das größte Manko von gängigen Liebesgeschichten besteht darin, dass sie enden, wenn sich zwei Menschen ergriffen in den Armen liegen. Dabei fängt es jetzt erst wirklich an. Wie geht es weiter mit ihnen? Schaffen sie es, über eine längere Zeit zusammenzubleiben? Wie bewältigen sie die Mühen des Alltags oder woran liegt es, dass sie irgendwann feststellen müssen, dass sie nichts mehr miteinander verbindet?
Georg und Herta zum Beispiel. Zwei schöne Menschen, es scheint, dass sie füreinander bestimmt sind. Er ist Soldat, als er sie zufällig in Plothow sieht. Von da an treffen sie sich jeden zweiten Dienstag, nicht leicht für einen, der sechzig Kilometer überwinden und rechtzeitig zurück in der Kaserne sein muss. Der Krieg vermag es nicht, die beiden zu trennen. Als sich die Verhältnisse normalisiert haben, wird Plothow Teil der DDR, Georg arbeitet im dortigen Stahlwerk. In den Westen flüchten sie, als Georgs geheime Kontakte in die Bundesrepublik ruchbar werden. Georg findet rasch Arbeit in einer Tuchfabrik, wir schreiben das Jahr 1957, „es war die Zeit, in der jeder gebraucht wurde“.
Die beiden stehen die Widrigkeiten ihrer Zeit und der rüden Politik durch, was sie auseinandertreibt, ist in ihnen selbst angelegt. Denn irgendwann, als sie sich in einer friedlichen Umgebung einrichten könnten, stellt sich heraus, dass sie doch nicht so ideal miteinander harmonieren. Eine Kamera, die sie aus der DDR mitgenommen haben, ein exklusives Stück von einigem Wert, soll zu Geld gemacht werden. So recht will der Handel Georg nicht gelingen, und um daheim für gute Stimmung zu sorgen, entnimmt er der Firmenkassa einen Betrag, den er bei nächster Gelegenheit zurückzuzahlen vorhat. Die Tat fliegt auf, Georg wird als Dieb gebrandmarkt.
Der zögerliche Georg und die forsche Herta ergeben ein Gegensatzpaar, das es schwer miteinander aushält. Herta verschwindet, führt ein Leben nach eigenen Vorstellungen, zurück bleiben Ehemann und Sohn. Würden nicht dann und wann Postkarten eintreffen, sie müsste als verschollen gelten.
Der Sohn tritt als Erzähler in Erscheinung, als er nach dem Tod beider Eltern im Abstand weniger Wochen Materialien zu sichten beginnt. Was weiß er schon von deren Innenleben, er ist angewiesen auf Nachrichten aus Briefen und den verborgenen Botschaften der Dinge. Und langsam zerbröckeln Gewissheiten, die der Erzähler seit Kindheitstagen bewahrt. Dass Georg über das Schicksal Hertas nach der Trennung nicht im Bilde gewesen sein soll, wird zunehmend schwerer vorstellbar.
„Ja, so könnte es gewesen sein“, heißt es gegen Ende. Wenn Georg aus einem Fenster vom Dachboden über die Stadt geblickt hat, konnte er direkt das Fenster und den Balkon des Pflegeheims, in dem sie zuletzt untergebracht war, in den Blick fassen. Und Herta war es möglich, den Bungalow auf der Anhöhe und dessen Bewohner in Augenschein zu nehmen. Es bestand, so sieht es der Sohn jetzt, offenbar eine geheime Verbindung der beiden, womöglich all die sechsundzwanzig Jahre der Trennung hindurch. Damit steckten sie ihre vermeintliche Einsamkeit locker weg.
Warum aber diese Sprechhemmung zwischen Vater und Sohn? Schon als Kind erlebte der Erzähler Georg als einen Menschen, der mehr als das Allernotwendigste zu bereden für überflüssig hielt. Und später, als beide längst eigene Wege gehen, stellt sich auch noch Verlegenheit ein, die dann auftritt, wenn die innersten Geheimnisse aufzufliegen drohen. Jede Begegnung ist ein Tanz um das Unaussprechbare.
Gert Loschütz, der schon 1990 im Roman „Die Flucht“vom Wagnis des illegalen Übertritts von der DDR ins Deutschland der Adenauer-Ära erzählt hat, macht dieses Ereignis jetzt zum Zentrum einer Liebe, die Nähe nicht aushält. Buch: