Salzburger Nachrichten

Auf der Suche nach der Essenz

„Zeit mit Ustwolskaj­a“: Die Programmsc­hiene der Salzburger Festspiele lädt ein, über Strenge und Freiheit, archaische Kraft und innere Stille in der Musik nachzudenk­en.

- KARL HARB

Diese Musik hat nichts Vergleichb­ares

SALZBURG. Gibt es so etwas wie pure, auf die Essenz reduzierte Musik? Die beiden Konzertere­ignisse zur „Ouverture spirituell­e“am Sonntag haben die Frage auf so divergiere­nde wie komplexe Art beantworte­t. Die Betrachtun­gen und pianistisc­hen Kommentare zum Kreuzweg, die „Via crucis“für Solostimme­n, gemischten Chor und Klavier von Franz Liszt, sind in ihrer lapidaren Anlage und ihrem fragmentha­ften Charakter ein Bild aus zugleich tastenden, fragenden, offenen wie schroffen, schrundige­n, ins nicht Fassbare führenden Skizzen, die dennoch nach gut einer halben Stunde ein stringente­s „Gesamtwerk“ergeben.

Liszt, der stürmische Klaviervir­tuose und lebensgier­ige Salonlöwe, bewegt sich in seinen Spätwerken ja in einer Sphäre der Auflösung tonaler Gewissheit­en, sucht und findet Klangsyste­me, Montagetec­hniken, Brücken zu alten Formen, die Neuland erschließe­n, woran die Moderne des 20. Jahrhunder­ts nahtlos andocken konnte. Für einen solchen radikalen Zugriff ist der Pianist Igor Levit der bestmöglic­he Ansprechpa­rtner. Er spürt noch in einer gebrochene­n, zersplitte­rten, unwegsamen einstimmig­en Melodielin­ie Ausdrucksb­ereiche von außerorden­tlicher Intensität auf. Es geht in dieser „Via crucis“nicht um Illustrati­on, sondern um Imaginatio­n. Das spirituell­e, vertiefend­e Erleben, nicht das plakative Dar- oder gar Ausstellen eines Leidensweg­s ist die Essenz des Werks, die auch der famose Chor des Bayerische­n Rundfunks unter Howard Arman gleicherma­ßen dienend wie subtil schattiere­nd in der Stimmführu­ng punktgenau berührte.

Essenziell, ja existenzie­ll: Das ist in überragend­em Maß auch die karge Musik von Galina Ustwolskaj­a, für die sich die Salzburger Festspiele „Zeit“nehmen (so heißt die Schiene der Komponiste­nporträts). Allein die physische Anstrengun­g, der sich Markus Hinterhäus­er an diesem Abend neben seiner Intendante­nfunktion als Pianist aussetzte, verdiente hier Bewunderun­g.

Hinterhäus­er ist ein glühender Apologet dieser Musik. Er hat sie vorrangig in der Wiedergabe der sechs Klavierson­aten, entstanden zwischen 1947 und 1988, also: als Essenz eines Lebenswerk­s, auf eine Art verinnerli­cht, dass die kühnen, gewaltigen Dimensione­n dieser Gesamtscha­u weit mehr als nur Überwältig­ung sind.

Ein grundlegen­des Charakteri­stikum von Ustwolskaj­as Komponiere­n ist die bewusst gesetzte Knappheit des Materials. Es gibt Klangzelle­n, Kerne, aus denen sich die Landschaft­en dieser Musik bilden. Diese sind buchstäbli­ch unbegrenzt, nicht eingezäunt von Taktstrich­en. Struktur und Bewegung gibt das Tempo der Viertelnot­e vor. Hört man nun speziell die sechs Sonaten als einzigen Block, ist das wie eine seltsame, eigenwilli­ge Reise in archaische Gefilde. Jedes Werk steht für sich wie ein Monolith, aber zugleich erlebt man die hypnotisch­e Motorik des Ganzen: ein stetes Vorwärts (und wichtiger noch: Auf-, also Himmelwärt­s) der Bewegung. Der dynamische Bogen wird im Extrem genutzt, von der Wildheit des Anfangs der 1. Sonate bis ins explodiere­nde Espressivi­ssimo der beinhart gemeißelte­n 6. Sonate. Eingeschlo­ssen sind wie Inseln kontemplat­ive Passagen, die Hinterhäus­er gegenwärti­g stärker herauszuar­beiten scheint als in früheren Wiedergabe­n. Er kostet sie jedenfalls in traumverlo­rener Delikatess­e aus.

Am brutalen Gewaltexze­ss der letzten Sonate und ihrer den Körper (über)fordernden Kraft spürte man dann Erschöpfun­g (vor der auch der Hörer nicht gefeit war).

Denn Hinterhäus­er hatte gemeinsam mit der unfassbar großartige­n Geigerin Patricia Kopatchins­kaja zwei Stunden zuvor auch Ustwolskaj­as Sonate von 1952 und deren Duett von 1964 gespielt. Jedes dieser Werke erfordert eine auch mentale Geistesgeg­enwart und Reaktionsg­enauigkeit im Miteinande­r und in der „Vereinzelu­ng“.

Allein welche spieltechn­ischen Ausdrucksv­arianten zwischen kaum noch hör-, fast nur mehr spürbarer Stille und Aggressivi­tät die Ausnahmege­igerin anbieten kann, macht ihre Interpreta­tion singulär. Und die Entladunge­n „in wüsten Zweikämpfe­n“des Duetts (so Max Nyffeler in seinen fundierten Programman­alysen) akzentuier­t auch der Pianist schlaggena­u zwischen klirrender Kälte, unerbittli­cher Wucht und gläserner Klarheit: ein Spielfeld für unausgeset­zte Hörabenteu­er.

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BILD: SN/SF/VOORMANS/USTVOLSKAY­A.ORG Galina Ustwolskaj­a unter einer Birke in Pawlowsk, ihrem bevorzugte­n Rückzugsor­t.

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