Auf der Suche nach der Essenz
„Zeit mit Ustwolskaja“: Die Programmschiene der Salzburger Festspiele lädt ein, über Strenge und Freiheit, archaische Kraft und innere Stille in der Musik nachzudenken.
Diese Musik hat nichts Vergleichbares
SALZBURG. Gibt es so etwas wie pure, auf die Essenz reduzierte Musik? Die beiden Konzertereignisse zur „Ouverture spirituelle“am Sonntag haben die Frage auf so divergierende wie komplexe Art beantwortet. Die Betrachtungen und pianistischen Kommentare zum Kreuzweg, die „Via crucis“für Solostimmen, gemischten Chor und Klavier von Franz Liszt, sind in ihrer lapidaren Anlage und ihrem fragmenthaften Charakter ein Bild aus zugleich tastenden, fragenden, offenen wie schroffen, schrundigen, ins nicht Fassbare führenden Skizzen, die dennoch nach gut einer halben Stunde ein stringentes „Gesamtwerk“ergeben.
Liszt, der stürmische Klaviervirtuose und lebensgierige Salonlöwe, bewegt sich in seinen Spätwerken ja in einer Sphäre der Auflösung tonaler Gewissheiten, sucht und findet Klangsysteme, Montagetechniken, Brücken zu alten Formen, die Neuland erschließen, woran die Moderne des 20. Jahrhunderts nahtlos andocken konnte. Für einen solchen radikalen Zugriff ist der Pianist Igor Levit der bestmögliche Ansprechpartner. Er spürt noch in einer gebrochenen, zersplitterten, unwegsamen einstimmigen Melodielinie Ausdrucksbereiche von außerordentlicher Intensität auf. Es geht in dieser „Via crucis“nicht um Illustration, sondern um Imagination. Das spirituelle, vertiefende Erleben, nicht das plakative Dar- oder gar Ausstellen eines Leidenswegs ist die Essenz des Werks, die auch der famose Chor des Bayerischen Rundfunks unter Howard Arman gleichermaßen dienend wie subtil schattierend in der Stimmführung punktgenau berührte.
Essenziell, ja existenziell: Das ist in überragendem Maß auch die karge Musik von Galina Ustwolskaja, für die sich die Salzburger Festspiele „Zeit“nehmen (so heißt die Schiene der Komponistenporträts). Allein die physische Anstrengung, der sich Markus Hinterhäuser an diesem Abend neben seiner Intendantenfunktion als Pianist aussetzte, verdiente hier Bewunderung.
Hinterhäuser ist ein glühender Apologet dieser Musik. Er hat sie vorrangig in der Wiedergabe der sechs Klaviersonaten, entstanden zwischen 1947 und 1988, also: als Essenz eines Lebenswerks, auf eine Art verinnerlicht, dass die kühnen, gewaltigen Dimensionen dieser Gesamtschau weit mehr als nur Überwältigung sind.
Ein grundlegendes Charakteristikum von Ustwolskajas Komponieren ist die bewusst gesetzte Knappheit des Materials. Es gibt Klangzellen, Kerne, aus denen sich die Landschaften dieser Musik bilden. Diese sind buchstäblich unbegrenzt, nicht eingezäunt von Taktstrichen. Struktur und Bewegung gibt das Tempo der Viertelnote vor. Hört man nun speziell die sechs Sonaten als einzigen Block, ist das wie eine seltsame, eigenwillige Reise in archaische Gefilde. Jedes Werk steht für sich wie ein Monolith, aber zugleich erlebt man die hypnotische Motorik des Ganzen: ein stetes Vorwärts (und wichtiger noch: Auf-, also Himmelwärts) der Bewegung. Der dynamische Bogen wird im Extrem genutzt, von der Wildheit des Anfangs der 1. Sonate bis ins explodierende Espressivissimo der beinhart gemeißelten 6. Sonate. Eingeschlossen sind wie Inseln kontemplative Passagen, die Hinterhäuser gegenwärtig stärker herauszuarbeiten scheint als in früheren Wiedergaben. Er kostet sie jedenfalls in traumverlorener Delikatesse aus.
Am brutalen Gewaltexzess der letzten Sonate und ihrer den Körper (über)fordernden Kraft spürte man dann Erschöpfung (vor der auch der Hörer nicht gefeit war).
Denn Hinterhäuser hatte gemeinsam mit der unfassbar großartigen Geigerin Patricia Kopatchinskaja zwei Stunden zuvor auch Ustwolskajas Sonate von 1952 und deren Duett von 1964 gespielt. Jedes dieser Werke erfordert eine auch mentale Geistesgegenwart und Reaktionsgenauigkeit im Miteinander und in der „Vereinzelung“.
Allein welche spieltechnischen Ausdrucksvarianten zwischen kaum noch hör-, fast nur mehr spürbarer Stille und Aggressivität die Ausnahmegeigerin anbieten kann, macht ihre Interpretation singulär. Und die Entladungen „in wüsten Zweikämpfen“des Duetts (so Max Nyffeler in seinen fundierten Programmanalysen) akzentuiert auch der Pianist schlaggenau zwischen klirrender Kälte, unerbittlicher Wucht und gläserner Klarheit: ein Spielfeld für unausgesetzte Hörabenteuer.