Wir haben verlernt, zivilisierte Debatten zu führen
Nicht nur im Internet ist vielen Menschen die Fähigkeit abhandengekommen, andere Meinungen zu akzeptieren.
Beschimpfungen kommen von überall. Wer zwar feststellt, Menschen, die im Mittelmeer Schiffbruch erlitten, müssten gerettet werden, aber trotzdem fragt, ob man damit nicht den Schleppern hilft, der muss sich auf gewaltigen Gegenwind und Beschimpfungen von links einstellen. Wer Fremde aufnimmt, unterstützt und ihnen bei der Integration hilft, der wird bald von rechten Trollen hören, die ihm alles Schlechte an den Hals wünschen.
Dies passierte erst kürzlich. Die deutsche Wochenzeitung „Die Zeit“publizierte ein „Pro und Contra“über die NGOs, die Flüchtlinge aus dem Mittelmeer fischen. Nicht nur von rechts kamen trollartige Postings, auch von links aus jenem Teil der Bevölkerung, der für sich in Anspruch nimmt, Meinungsfreiheit hochzuhalten.
Leider stellt sich heraus, dass Meinungsfreiheit mittlerweile ein Gut ist, das man für sich selbst beansprucht, es dem Andersdenkenden aber nicht zugestehen will. Wer anderer Meinung ist, so scheint die neue Diskussionsmoral zu heißen, den darf ich beschimpfen, ihn einen Idioten und Verbreiter von Fake News heißen. Das ist besonders bedauerlich, weil es die Entlarvung von tatsächlichen Fake-News-Verbreitern erschwert und weil es echte Dummköpfe in die Nähe tatsächlich anständiger und kluger Köpfe rückt.
Erstaunlich dabei, dass „Moral“sehr wesentlich zu diesem Niedergang des vernünftigen und ehrlichen Diskurses beigetragen hat. Denn jede Seite argumentiert mit einem „moralischen Anspruch“. Die einen damit, dass es die Moral gebiete, zum Beispiel die eigene Bevölkerung gegen zugewanderte „Schmarotzer“und „potenzielle Terroristen“zu schützen, die anderen halten die moralische Pflicht hoch, dem Nächsten zu helfen, besonders wenn er gerade irgendwo im Mittelmeer am Ertrinken ist.
Ließe sich das noch auf die Flüchtlingsde- batte beschränken, wäre es ja noch erträglich. Doch die diskursive Intoleranz infiltriert ja auch den normalen politischen Dialog. Regierung und Opposition kennen in der parlamentarischen Auseinandersetzung offenbar nur noch die verbale Keule statt des Floretts der Argumentation. Daran tragen beide Teile ein gerüttelt Maß an Schuld. Die Rundumschläge mancher blauer Minister gegen jeden Anflug von Kritik von Opposition oder Medien sprechen Bände. Und auf der anderen Seite gibt es genug untergriffige Attacken.
Auch wenn etliches an der Regierungspolitik auszusetzen ist, wird es nur noch öd, dem Kanzler seine Jugend und die Tatsache vorzuhalten, dass er sein Studium abgebrochen hat. Es gäbe genug andere Dinge, die man ihm vorhalten könnte, ohne in die unterste Schublade mit dem meisten Schlamm zu greifen.