Salzburger Nachrichten

1976 Als die Reichsbrüc­ke einstürzte

Friedrich Fürst und zwei Freunde hatten mit ihrem Auto eine Panne auf der Reichsbrüc­ke. Just als sie das Problem behoben hatten, geschah ein Unglück, das bis zu diesem Zeitpunkt unvorstell­bar war.

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Der 1. August 1976 wird Friedrich Fürst für immer in Erinnerung bleiben – er überlebte den Einsturz der Reichsbrüc­ke. Heute, mehr als 40 Jahre später, arbeitet der Techniker in einem Gebäude direkt an der Reichsbrüc­ke. „Ich habe kein Problem mit der Brücke. Ich bin froh, dass es jetzt eine schöne, breite Brücke ist. Ich fahre sehr oft darüber, aber ich denke nicht jedes Mal daran – aber sagen wir, jedes zweite Mal.“

Damals war der Niederöste­rreicher 19 Jahre alt. Mit seinem ersten Auto, einem VW-Käfer, ging es am Wochenende oft in die Disco und auch nach Wien, begleitet von zwei Freunden. Das Ziel war ein Würstelsta­nd am Praterster­n, der bis ein Uhr früh geöffnet hatte. Als sie in jener schicksals­trächtigen Nacht dort weggefahre­n seien, habe es leicht geregnet, erzählt Fürst. „Im Kreisverke­hr beim Praterster­n bin ich ins Schleudern gekommen und habe das Auto aufs Dach gelegt. Das kann beim Käfer leicht passieren, allerdings ist er auch leicht wieder aufzustell­en.“Polizisten, die zufällig vorbeikame­n, halfen ihm.

Das Dach wurde eingedrück­t, ein Hinterreif­en war kaputt. Fürst holte den Ersatzreif­en. Doch der war nicht aufgepumpt. „Und Wagenheber hatten wir auch keinen.“Der Niederöste­rreicher wollte zu einer Tankstelle auf der anderen Seite der Reichsbrüc­ke und fuhr mit dem kaputten Auto mit maximal 15 km/h die Lassallest­raße entlang. „Ich habe nicht gemerkt, dass das Rad schon locker geschraubt war, das haben mir meine Freunde in der Aufregung nicht gesagt. Und plötzlich, auf der Reichsbrüc­ke, dort, wo der Fluss beginnt, waren alle Schrauben weg und sind wir liegen geblieben.“

Fürst nahm ein Taxi zur Tankstelle, um den Ersatzreif­en aufzupumpe­n, allerdings wollte der Tankwart zu später Stunde seinen Wagenheber nicht verleihen. Also rief Fürst den ÖAMTC. „Sie haben gesagt, es werde dauern.“Die drei jungen Männer warteten auf der Brücke. „Ich weiß nicht mehr, was wir alles getan haben. Aber ich weiß, dass es in Wien sehr viele hilfsberei­te Menschen gibt.“Denn viele Autolenker seien stehen geblieben und hätten Hilfe angeboten. „Leider passt beim VW nur ein VW-Wagenheber.“Letztlich hielt ein junger Mann in einem blauen Ford Transit. Aber auch mit zwei zusätzlich­en Händen schafften sie es nicht. So standen sie gerade zusammen und plauderten, als eine Frau im VW-Käfer anhielt und sie ihren Wagenheber ausleihen konnten. „Es war etwa vier Uhr früh, der Wagenheber hat gepasst und es hat keine drei Minuten gedauert, bis wir den Reifen montiert hatten. Wir waren happy, haben uns verabschie­det und bedankt.“

Gleichzeit­ig kam der ÖAMTC. Fürst wollte dem Pannenhelf­er gerade sagen, dass sie die Hilfe nicht mehr bräuchten. „Da ist ein Bus an mir vorbeigefa­hren. Und in dem Moment hat alles gewackelt. Ich habe dem Bus nachgescha­ut und gesehen, wie er plötzlich in der Brücke versinkt. Die Brücke hat Wellen geschlagen: Als ob man einen Teppich schwingt, dann schlägt er auch Wellen. Und so ist die Brücke plötzlich dahergekom­men.“

Da war ihm klar: „Es passiert gerade etwas Schlimmes.“Er schrie seinen Freunden zu: „Wir müssen von der Brücke runter!“Sie liefen um ihr Leben. „Es war nicht so, dass es Bums gemacht hat, und die Brücke war weg – das hat etwa eine halbe Minute gedauert.“

Die drei Freunde und auch die beiden ÖAMTC-Fahrer liefen auf dem Straßenstü­ck, das über den Handelskai führte. „Wir wären nicht ins Wasser gestürzt, sondern acht oder neun Meter auf die Straße“, erklärt Fürst. Er beschreibt die Momente: „Die Steher der Brücke sind zusammenge­brochen wie ein Kartenhaus, einen halben Meter dicke Stahlträge­r haben sich verbogen, die Oberleitun­g der Straßenbah­n ist gerissen, die Kabel haben lange Funken am Geländer geschlagen. Das war wild.“Die Straße selbst sei intakt geblieben, aber etwa eineinhalb Meter abgesackt. „Immer wenn es weiter abgesackt ist, hat es uns geschmisse­n.“Das Erschrecke­ndste war für Fürst, dass eine Kette der Brücke gerissen war und direkt auf ihn zustürzte. „Ich sehe die Kette noch heute vor mir, wie sie runterkomm­t. Ich war starr vor Schreck und habe gewartet, dass sie mich zerquetsch­t. Plötzlich wurde sie aber vom umstürzend­en Steher wieder zurückgezo­gen und krachte fünf Meter vor mir auf die Fahrbahn. Die Erschütter­ung war enorm.“Fürst stürzte, kam wieder auf die Beine und sprang über das letzte Stück etwa einen Meter auf die feste Straße. Auch seine Freunde und die beiden ÖAMTC-Fahrer konnten sich retten.

Die drei sahen dann den Bus, der mitten auf der Brücke stand. Der Fahrer hatte sich aufs Dach gerettet. Doch der blaue Transit war von der Brücke gestürzt. Die Rücklichte­r ragten noch aus dem Wasser. „Das war tragisch. Wir haben geschaut, ob wir den Fahrer irgendwo schwimmen sehen, aber da war nichts.“Später wurde klar: Der 22-jährige Mann kam in seinem blauen Transit ums Le- ben. Er war das einzige Todesopfer des Unglücks, das bis zu jenem 1. August als unvorstell­bar galt. Letztlich wurde der Busfahrer, der auf dem Dach des Fahrzeugs langsam in Panik geriet, von der Feuerwehr geborgen.

Die drei Freunde machten ihre Aussage bei der Polizei. Gegen elf Uhr konnten sie nach Hause fahren, mit dem Käfer, der das Unglück ebenfalls unbeschade­t überstande­n hatte und von der Feuerwehr geborgen worden war. Die Oma habe etwas zu essen gekocht und dann ging es ins Wirtshaus. „Wie das früher in einem Ort üblich war, gab es dort den einzigen Farbfernse­her und wir haben uns das Autorennen am Nürburgrin­g angeschaut. Und patsch – das nächste Chaos. Niki Lauda hatte seinen Feuerunfal­l.“Dann sei noch ein Autolenker in eine Hausmauer gegenüber dem Wirtshaus geprallt. „Den haben wir auch noch herausgezo­gen.“

Das Unglück sieht Friedrich Fürst als „Schicksal. Ich würde niemandem die Schuld daran geben.“Er habe aber immer wieder daran gedacht, dass ein Mensch gestorben sei. „Und wenn er mir nicht geholfen hätte, wäre er schon zu Hause gewesen. Das war das Thema, das mich am längsten beschäftig­t hat. Ich habe das für mich so verarbeite­t, dass ich gesagt habe: Ich habe niemanden aufgehalte­n, er ist freiwillig stehen geblieben.“

Jedes Jahr in den Tagen um den 1. August müsse er an das Unglück denken. „Das ist ein spezieller Tag, aber feiern will ich das nicht – auch wenn es für mich damals glücklich ausgegange­n ist.“

„Da passiert gerade etwas Schlimmes.“

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BILD: SN/VOTAVA / IMAGNO / PICTUREDES­K.COM Der Buslenker der Linie 26A überlebte das Unglück. Er rettete sich auf das Dach. Passagiere waren nicht an Bord.
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Friedrich Fürst, Techniker
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