Hier arbeitet eine Bildhauerin des Körpers
Die kanadische Choreographin Marie Chouinard wird bei ImPulsTanz Wien mit einer Retrospektive geehrt.
Der Körper ist ein Mysterium. Am Ende des knapp dreistündigen Abends von Marie Chouinards Jubiläumsstück treten die Tänzer nackt und mit Babyface-Maske auf. Der Körper spiegelt alles: das Denken, die Qualität der Beziehungen, die Lebenslust. Letztere ist ohne Alter und Geschlecht.
Marie Chouinard, hochdekorierte kanadische Choreografin, feiert heuer ihr 40-jähriges Bühnenjubiläum. Sie ist regelmäßiger Gast bei ImPulsTanz in Wien, und so zeigt das Festival eine Würdigung ihrer herausragenden Arbeit.
Chouinard ist 63, und auch wenn sie selbst nicht auf der Bühne steht, ist eines klar: Bei ihr sind hüftschwingende Omis sexyer denn je. Mit der Tanzminiatur „The Ladies' Crossing“(2010), in der die Performer in Großmutter-Masken und in schwarzer Unterwäsche lasziv tanzen, schließt der erste Akt von Chouinards Produktion „RADICAL VITALITY, SOLOS AND DUETS“. So lautet der programmatische Titel ihrer Retrospektive aus rund dreißig Soli und Duetten – allesamt Rekonstruktionen, Neubearbeitungen und Ausschnitte, darunter aber auch Werke, die bisher nur als Entwurf existierten.
Die vielseitige Künstlerin erzählt über den Körper kurze, kuriose Geschichten – Tanznovellen –, dazu gehören auch Provokationen früherer Jahre, etwa „Petite Danse Sans Nom“(1980), in der eine Frau auf die Bühne tritt, ein Glas Wasser leert und dann voller Anmut im Plié in einen Kübel uriniert. Chouinard zeigt fremdgesteuerte Körper, etwa in der legendären Arbeit „S.T.A.B.“(Space, Time And Beyond, 1986), in der die Tänzerin wie eine Außerirdische ihre von dem Schweizer Künstler HR Giger entworfenen Körperteile entkoppelt und scheinbar neu zusammensetzt.
Sie erzählt von Beschädigten, die mit Krücken zu Bachs „Goldberg Variationen“tanzen und die man sich in ihrer Versehrtheit kaum eleganter vorstellen kann, und von erotischen Begegnungen eines Paares, dessen Arme flügelartig schwingen. Die beiden stöhnen und seufzen, treten ins Licht und lassen ihre Körper ekstatisch entgleisen. Grotesk und bizarr sind Chouinards Kreationen, so auch das sadomasochistische Paar aus „Crying-Laughing Duet“(2010), das einander an Armen und Beinen zieht und nicht voneinander lassen kann.
Marie Chouinard findet immer wieder neue Zugänge und künstlerische Formen, die sie mit ihrer 1990 gegründeten Compagnie auf virtuose Weise weiterentwickelt. In ihrem Selbstbild versteht sich die vielseitige Künstlerin als Bildhauerin des Körpers, die mit den Tänzern an Bewegungen modelliert. Ihre Choreografien bestechen durch absolute Präzision, durch Kenntnis und Einsatz vielseitiger Mittel, etwa dem Vergrößern kleinster Bewegungen durch die Kamera oder dem Ausreizen der körperlichen Ausdrucksmöglichkeiten bis hin zur Stimme. – Es war ein außerordentlicher Abend, der trotz später Stunde bejubelt wurde.