„Moderne Baupest“: Müssen die Berge künstlich herausgeputzt werden oder fehlt die Demut vor der Natur?
Der Alpenraum wird für Touristen immer stärker inszeniert. Dort ein begehbares Gipfelkreuz, da eine Hängebrücke. Doch müssen Berge wirklich künstlich herausgeputzt werden oder fehlt die Demut vor der Natur?
WIEN. Seit jeher ziehen Berge die Menschen in ihren Bann. Majestätisch. Erhaben. Weit weg vom Trubel des Tals.
Doch Letzteres wird vielerorts immer öfter zur Ausnahme. Da locken Funsportstationen mit dem besonderen Adrenalinkick, dort sollen überdimensionierte begehbare Gipfelkreuze oder furchteinflößende Dinosaurier den Berg noch spektakulärer machen. Reicht der Berg an sich nicht mehr aus? Und: Kann man so etwas Majestätisches wie einen Gipfel überhöhen?
Fotograf Lois Hechenblaikner hat dazu eine eindeutige Meinung. „Der Slogan einer Bergbahn-Gesellschaft lautet: ,So müssen Berge sein.‘ Das ist eine postkoloniale Haltung. Es wird vermittelt, dass der Mensch dem Berg erst seine Bestimmung Zeit für Berge gibt. Nach dem Motto: Du depperter Berg, ich zeig dir, wer du bist.“Seit Jahren hält Hechenblaikner seiner Heimat und der Tourismusbranche den Spiegel vor und erzählt mit seinen Bildern auf eindrucksvolle Weise, wie der Mensch die Berge zu Freizeitfabriken umbaut. „Am Berg gibt es so viele wundervolle Plätze. Aber der Tourist kommt mit solch einer inneren Leere an, dass man ihm etwas aufpfropfen muss. Wie ein 17-jähriger GTIFahrer, der noch einen größeren Spoiler braucht, damit es ihm besser geht“, sagt Hechenblaikner.
Fakt ist, dass der Tourismus lebensnotwendig für den Alpenraum und seine Bevölkerung ist. Kaum ein anderes Gebirge der Welt ist dichter besiedelt und wird intensiver wirtschaftlich genutzt. Offen bleibt aber, wie lange das Konzept der Alpen als eine Art Funpark noch gut gehen kann.
Damit beschäftigt sich auch Autor, Umweltschützer und Fotograf Matthias Schickhofer (Schwarzbuch Alpen. Warum wir unsere Berge retten müssen, Brandstätter Verlag). „Der Berg verkommt zusehends zum Spaßgerät. Die Touristiker müssen sich gegenseitig überbieten, um die Massen anzulocken. Und nichts lockt so sehr wie Adrenalin und Geschwindigkeit“, erzählt der Autor.
Am Ende bleibe der Widerspruch, dass der Mensch auf der Suche nach Ruhe in die Berge kommt, aber erneut beim Trubel landet. „Der Mensch mag Ruhe suchen, aber was verkauft und vermarktet wird, hat einen eigenen Sound und der zieht an“, ist Hechenblaikner überzeugt.
Diesen Klang der Vermarktung kennt kaum jemand besser als Günther Aloys. Der Hotelier und umstrittene touristische Reformator hat seinen Heimatort Ischgl in einen Markennamen, eine Art Ibiza der Alpen verwandelt. „Ohne Inszenierung geht es nicht. Die Alpen sind der Entertainmentpark in Europa. Man muss das nackt und nüchtern betrachten. Wir haben eine spektakuläre Neigung der Berge. Nun geht es darum, wie wir sie nutzen“, ist Aloys überzeugt. Und nein, der Berg allein sei nicht genug. „Lassen Sie einen Touristen in die pure Natur raus. Der kommt nach fünf Minuten zurück, weil er nichts damit anfangen kann. Man muss eine Infrastruktur und Installationen schaffen“, sagt Aloys. Diese Installationen, wie Achterbahnen oder riesige beheizte Pools mitten auf der Skipiste, werden die Menschen laut dem Hotelier auch wieder für die Berge und fürs Skifahren begeistern. „Wir hatten einmal zwölf Millionen Skifahrer aus Deutschland, heute sind es sieben. Der Skilauf hat ein großes Problem“, sagt Aloys.
Eines, das sich noch verschärfen wird. Laut OECD-Studien bekommt rund die Hälfte aller Wintersport- orte ein Problem mit dem Schnee. Prognosemodelle rechnen bis Ende des Jahrhunderts mit einem Rückgang der weißen Pracht in den Alpen um 70 Prozent. Der deutsche Alpenforscher Werner Bätzing gibt dem klassischen Wintertourismus mit Abfahrtsski in den Alpen nur noch rund 20 Jahre.
„Es ist klar, dass nicht alle Skigebiete überleben werden. Und ohne künstlichen Schnee können jene in den oberen Lagen keine hundertprozentige Schneegarantie mehr bieten. Wir brauchen künstliche Beschneiung und wir müssen Szenarien andenken, die bisher nicht gedacht wurden“, holt Aloys aus. Eine Art Guggenheim-Museum auf 3000 Metern Seehöhe würde dem Mann, der einst auf einer einsamen Berghütte aufwuchs, vorschweben oder die längste Steintreppe der Welt: 8200 Stufen, 1200 Höhenmeter, sieben Ebenen zum Rasten.
Die Argumente der Gegenseite folgen prompt: Das künstliche Aufrechterhalten des Skitourismus durch künstlichen Schnee belaste das Klima durch klimaschädlichen CO2-Ausstoß zusätzlich. Dennoch setzt Frankreich, mit geschätzt 8000 Pistenkilometern der größte Abfahrtsanbieter der Alpen vor Österreich mit 6800 Kilometern und der Schweiz mit 5800 Kilometern, auf den Ausbau der Pisten. Alpenforscher Bätzing warnt vor „einer ökologischen Katastrophe“. Denn einfaches Stilllegen funktioniere bei den Beschneiungsanlagen nicht, wenn der Abfahrtstourismus eines Tages nicht mehr läuft. „Die Speicherbecken, von denen Hunderte in Höhen zwischen 1800 und 3000 Metern gebaut wurden, um Pisten künstlich beschneien zu können, müssten zurückgebaut werden, da- mit sich das Wasser dort nicht unkontrolliert staut und dann als Flutwelle ausbricht.“Das Renaturieren der Skigebiete sei ein riesiger Aufwand. In den Köpfen müsse ein anderes Winterbild geschaffen werden, fordert Bätzing. Er wirbt für sanften Tourismus.
Genau in diese Kerbe schlägt auch der österreichische Autor Matthias Schickhofer. „Für mich sind etwa die Bergsteigerdörfer ein Vorzeigemodell.“Seit zehn Jahren gibt es das alpine Tourismusprojekt auf Initiative des Österreichischen Alpenvereins. Alle 26 Bergsteigerdörfer setzen auf dauerhaften Naturschutz, zeitgemäße und ökologische Berglandwirtschaft, eine exzellente Landschaftsqualität ohne Erschließungsdruck oder ein umweltfreundliches Mobilitätskonzept. In Salzburg passiert dies etwa in Hüttschlag oder Weißbach bei Lofer. „Tourismus wird für mich dann spannend, wenn jemand etwas in die Welt setzt, worauf mehrere Generationen aufbauen können. Wenn die nächste Generation stolz darauf ist, was ihre Väter geschaffen haben. Wenn sie nun eine Hängebrücke auf einen Berg bauen, was soll die nächste Generation damit tun? Sie verlängern?“, fragt Fotograf Hechenblaikner.
Tourismusmanager Aloys sieht dies anders: „Mit sanftem Tourismus kommt man nicht weit. Es muss etwas Spektakuläres sein.“Wenn man schon unbedingt Stille verkaufen wolle, dann doch bitte so: „Die Stille muss inszeniert werden“, ist Aloys überzeugt. „Wenn es zum Beispiel einen Kraftplatz am Berg gibt, dann muss man diesen etwa mit Steinen markieren und der Gast muss sich dann hinsetzen und dann muss ich ihm sagen, was er tun soll. Ich kann ja nicht nur sagen: Jetzt geh’ auf den Berg.“
Für Hechenblaikner ist es vor allem die Demut vor der Natur, die zusehends verschwindet. „Ich vermisse die Phase des Innehaltens. Wir erleben eine moderne Baupest auf den Bergen“, sagt der Fotograf. Und dann folgt nur mehr eines. Stille. Für diesen Teil der Sommerserie verbrachten die SN eine Woche in den Hohen Tauern. Geschichten von Bergen, Bergmenschen, Bergträumen und Albträumen.
„Stille muss inszeniert werden.“