Festspiele Erl zeigen die Hilflosigkeit beim Thema sexueller Übergriff
Die Bewegung #MeToo schärft seit einem Jahr die Sinne fürs Thema Übergriff. Aber längst nicht alle haben daraus etwas gelernt.
Der Fall um Vorwürfe gegen den künstlerischen Leiter der Festspiele Erl, Gustav Kuhn, zeigt, dass, knapp ein Jahr nachdem #MeToo eine weltweite Debatte über sexuelle Übergriffe auf Frauen ausgelöst hat, noch nicht überall Bewusstseinsbildung stattgefunden hat. Es geht hier nicht darum, ob Herr Kuhn Frauen unerwünscht auf den Mund geküsst, ihnen zwischen die Beine gegriffen oder sie verbal obszön angemacht hat, wie fünf anerkannte Künstlerinnen dies in einem offenen Brief an den Festspielpräsidenten Hans Peter Haselsteiner geschrieben haben. Denn natürlich gilt für den Mann, der dies alles abstreitet, die Unschuldsvermutung. Die gilt aber auch für die Frauen: nämlich, dass sie nicht lügen.
Vielmehr ist es interessant zu analysieren, wie dilettantisch hier mit Vorwürfen, dass ein Vorgesetzter seine Macht missbraucht habe, umgegangen wird. Denn die Anschuldigungen gegen den künstlerischen Leiter gibt es bereits seit Monaten. Damals waren es anonyme Vorwürfe. Man richtete eine Ombudsfrau ein und verpasste sich Benimmregeln, was Haselsteiner auf Nachfragen von Journalisten so kommentierte: Die Vorwürfe seien „völlig aus der Luft gegriffen“, „jetzt will ich nichts mehr hören“. Jetzt muss er doch zuhören. Und das haben sich er und andere Festspiel-Verantwortliche selbst in die Schuhe zu schieben. Denn unprofessionelles und brüskierendes Verhalten möglichen Opfern gegenüber hat diese erst dazu bewogen, in die Öffentlichkeit zu gehen.
Haselsteiner hatte Anfang Juli bei der Eröffnung der Festspiele Erl über den kritisierten künstlerischen Leiter gesagt, „er macht – hoffentlich zum Ärger des Bloggers (er hatte anonym Anschuldigungen gegen Kuhn erhoben, Anm.) – noch immer keinen Hehl daraus, welche Vorlieben er hat. Und Wein, Weib und Gesang ist etwas, was wir gut nachvollziehen können.“Zumindest fünf Frauen konnten das nicht mehr nachvollziehen. Wen wundert das, wenn sich gedemütigt und arg verletzt fühlen- de Frauen auch noch öffentlich verhöhnen lassen müssen? Und Haselsteiner legte nochmals eins drauf, indem er die Frauen um Verständnis bat, dass er sich erst nach dem Ende der Festspiele am heutigen Montag um ihre Sache kümmern werde, weil dem Dirigenten Kuhn bis dahin bei seinen Auftritten alles abverlangt werde. „Als Künstlerinnen werden Sie sicher für die kleine Verzögerung Verständnis aufbringen“, schrieb er. Unsensibler geht es kaum.
Wir können nicht wissen, was vorgefallen ist oder nicht. Fest steht aber, dass in Erl jegliches gutes Krisenmanagement fehlt und mögliche Opfer nicht geschützt werden. Wie groß ihr Leiden sein muss, lässt sich daran ermessen, dass sie mit vollem Namen in die Öffentlichkeit gegangen sind. Karrierefördernd ist das nicht. Aber es zeigt, dass die Zeit des Schweigens im Fall von sexuellen Übergriffen vorbei ist. Da hilft kein „Ich will nichts mehr hören“.