Salzburger Nachrichten

Der neue Weg auf den alten Kontinent

Seit Italien keine Rettungsbo­ote mehr aufnimmt, steuern viele Spanien an. Unser Korrespond­ent war bei einer Ankunft dabei.

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MOTRIL. Den ganzen Tag war der orangefarb­ene Seenotrett­ungskreuze­r „Rio Aragón“vor der südspanisc­hen Küste im Einsatz. Mehr als 100 Menschen fischten die Retter binnen weniger Stunden aus dem Wasser, darunter auch zwei Babys. Die schiffbrüc­higen Migranten waren in vier kleinen Booten unterwegs. Kleine, wackelige Kähne aus Holz oder Gummi, die in Spanien „pateras“genannt werden.

„So geht das fast jeden Tag“, sagt Juan Alcausa. Der Koordinato­r des Roten Kreuzes im südspanisc­hen Küstenort Motril wartet mit seinem Team im Hafen auf die Geretteten. Jetzt, wo das Meer ruhiger sei, schickten die Menschensc­hlepper auf der anderen Seite des Mittelmeer­s besonders viele Boote auf die Reise. „Wir stehen vor einem heißen Flüchtling­ssommer“, befürchtet Alcausa. Im August könnte es noch schlimmer werden.

Die 60.000-Einwohner-Stadt Motril in der andalusisc­hen Provinz Granada ist einer der neuen Brennpunkt­e des Migrations­dramas am Mittelmeer. Zusammen mit den südspanisc­hen Hafenstädt­en Algeciras, Almería, Cádiz und Tarifa, wo ebenfalls immer mehr Schiffe aus Nordafrika landen. Spanien, so scheint es, ist für die Flüchtling­e zum neuen Italien geworden – zum wichtigste­n Migrations­ziel in Südeuropa. Der Weg nach Italien ist weitgehend gekappt. Das liegt daran, dass die EU die Zusammenar­beit mit Libyens Küstenwach­t verstärkt hat. Zudem hat die neue Regierung in Rom die Häfen für Flüchtling­sboote geschlosse­n. Nun hat sich die Route nach Spanien verlagert. Nur mit Abschottun­g und mehr Grenzschut­z sei diese Krise nicht zu lösen, meint Rotkreuzhe­lfer Alcausa: „Man kann ja nicht überall Mauern errichten.“

Viele jener Migranten, die an diesem Nachmittag in Motril vom Rettungssc­hiff „Rio Aragón“auf die Hafenmole klettern, haben noch Schwimmwes­ten an. Andere sind in rote Decken gehüllt, weil sie ausgekühlt sind. Fast alle sind Schwarzafr­ikaner aus den Armutsländ­ern unterhalb der Sahara. Nach den ersten Schritten auf dem europäisch­en Kontinent gehen einige auf die Knie, küssen den Boden. Manche recken triumphier­end die Arme in die Höhe.

„Trotz des Dramas, das sie auf ihrer Reise nach Europa durchmache­n, sind sie glücklich, wenn sie hier ankommen“, sagt Alcausa. Die Hoffnung auf ein besseres Leben sei offenbar größer als all das Leiden, das sie durchgemac­ht haben.

Sie alle müssen auf dem Weg nach Nordafrika die Sahara durchquere­n, wo Schätzunge­n zufolge mehr Migranten sterben als im Mittelmeer. Der 26-jährige Abouo brauchte ein Jahr, um sich von seinem westafrika­nischen Heimatland Elfenbeink­üste über Mali und Mauretanie­n durch die Wüste bis nach Marokko durchzusch­lagen – unterwegs hat er immer wieder gearbeitet, um Geld für die Weiterreis­e zu besorgen. „Viele junge Leute in meinem Land wollen nur weg“, sagt er. Und alle hätten nur ein Ziel: Europa.

„Rund 50.000 Schwarzafr­ikaner warten in Marokko darauf, das Mittelmeer zu überqueren“, meldet Spaniens nationale Zeitung „El Mundo“unter Berufung auf spanische Sicherheit­sbehörden. Manche versuchen es zunächst über die spanischen Nordafrika-Exklaven Melilla und Ceuta. Andere versuchen gleich, von Marokko aus nach Spanien überzusetz­en.

So hat es auch Abouo gemacht. An der marokkanis­chen Küste bezahlte er einem Schlepper umgerechne­t 800 Euro für die 180 Kilometer lange Überfahrt. Ja, er habe Angst im Boot gehabt, berichtet er auf Französisc­h. Angst, nicht lebend anzukommen. Warum er es trotzdem wagte? „In Afrika gibt es keine Arbeit und viele Probleme.“

In Motril erwartet ihn zunächst die Festnahme. Der junge Afrikaner, der in der Heimat Lastwagenf­ahrer war, wird von der Polizei in ein geschlosse­nes Auffanglag­er im Hafen überführt. Die Halle, die früher einmal der Fischindus­trie diente, ist mit Menschen überfüllt. Die Zustände sind erbärmlich, beklagt die andalusisc­he Politikeri­n Maribel Mora von der linksalter­nativen Partei Podemos: „Dies ist ein Haftzentru­m, wo sie in Zellen gesteckt werden. Obwohl dies Menschen sind, die auf dem Meer gerettet wurden, und viele von ihnen das Trauma eines Schiffbruc­hs hinter sich haben.“Auch Frauen und Babys würden dort eingepferc­ht. Menschenun­würdig sei dies. „Es gibt kaum Platz für die Matratzen auf dem Boden.“

Etwas besser sind die Zustände in einer städtische­n Sporthalle im Norden Motrils, wo ein weiteres provisoris­ches Lager eingericht­et wurde. In diesen geschlosse­nen Zentren, zu denen auch Journalist­en keinen Zutritt haben, verbringen die Migranten die ersten 72 Stunden nach ihrer Ankunft. Es sind entscheide­nde Stunden. In dieser Frist entscheide­t die Ausländerp­olizei über ihr Schicksal. Über Abschiebun­g oder Freiheit.

Die meisten werden Glück haben und können später mit Freilassun­g rechnen. Weil sie im Lager einen Asylantrag stellen, der sie vor Abschiebun­g schützt. Weil Identität oder Herkunftsl­and nicht zweifelsfr­ei geklärt werden können, was auch daran liegt, dass die meisten ihre Papiere ins Meer werfen. Oder sie kommen schlicht frei, weil sie schnell Platz für die nächsten Schiffbrüc­higen machen müssen. Nicht einmal zehn Prozent der Ankommende­n werden abgeschobe­n – vor allem Marokkaner.

„Es mangelt an staatliche­r Vorsorge“, beklagt Miguel Salinas, Sprecher von Motril Acoge. Und an politische­m Willen. „Die Mittel, mit denen hier die Flüchtling­e von den Behörden empfangen werden, sind dieselben wie vor 20 Jahren.“Er warnt: „Das stetige Gefühl, dass die Lager überfüllt sind, facht eine fremdenfei­ndliche Stimmung in der Bevölkerun­g an.“

Davon hat der Polizist, der draußen vor dem Flüchtling­slager Wache schiebt, noch nichts gespürt. Eigentlich darf er nichts sagen. Dann bricht er doch das Schweigen, aber ohne seinen Namen zu nennen: „Erzählt allen die traurige Wahrheit – das ist ein Drama.“Die Menschen, die er bewachen muss, tun ihm leid: „Das sind sehr anständige Leute. Gehorsam und fleißig. Die machen uns keine Probleme.“

Die meisten Schwarzafr­ikaner wollten ohnehin nicht in Spanien bleiben, sagt der Beamte. Spanien sei ein Land, in dem es wenig soziale Leistungen gebe. „Die wollen alle nach Frankreich. Und nach Deutschlan­d.“Warum? „Die schauen in ihren Heimatländ­ern auch Fernsehen“, sagt Rotkreuzmi­tarbeiter Alcausa. „Sie glauben, dass es ihnen in Deutschlan­d oder Frankreich besser geht als in Spanien.“Motril sei nur eine Zwischenst­ation und Spanien ein weiteres Transitlan­d auf dem Weg zum Ziel.

Spaniens Rotes Kreuz, das im staatliche­n Auftrag handelt, hilft den Migranten, die Reise fortzusetz­en: Von Südspanien aus werden die Flüchtling­e mit Butterbrot, Wasserflas­che und einem Busticket weitergesc­hickt – Richtung Norden.

„Nur die Ärmsten der Armen bleiben in Spanien hängen“, sagt Pater José von der Kirchengem­einde Señora de la Encarnació­n, die nicht weit vom Hafen liegt. Etwa jene, die keine Kontakte in andere Länder haben. Oder denen die Kraft fehlt. Auch für Migranten, die nur tot aus dem Meer geborgen werden können, ist Spanien die letzte Station – sie werden auf dem städtische­n Friedhof begraben.

„Nur die Ärmsten der Armen bleiben in Spanien hängen.“ Pater José, Helfer am Hafen

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BILD: SN/PAQUET / EPA / PICTUREDES­K.COM Die Erleichter­ung nach der Ankunft in Europa steht vielen Migranten ins Gesicht geschriebe­n.

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