In elf Kapiteln durch eine Fantasiewelt
KARL HARB
Die Salzburger Festspiele haben permanent eine Last zu tragen, die nicht immer zur Lust wird. Man fordert unbedingte „Mozart-Kompetenz“mindestens auf der Höhe der jeweiligen Zeit, wenn nicht gar vorausschauend: die wegweisende Neuinterpretation. Nun ist keine Oper Mozarts eine einfache Sache, aber die scheinbar einfachste, weil volkstümlichste und allzeit die Hitliste der Aufführungen anführende „Zauberflöte“ist wohl die schwierigste, riskanteste, heikelste im Kanon seiner Werke.
Die Neudeutung durch Regisseurin Lydia Steier geht von ungewöhnlichen Prämissen aus. Die originalen Dialoge Emanuel Schikaneders sind fast ganz eliminiert, stattdessen in eine märchenhafte Erzählform gegossen. Während der Ouverture sieht man im vielteiligen Bühnenbild von Katharina Schlipf eine Abendessensszene in einem gutbürgerlichen Haushalt. Irgendwie entgleist das auf guten Anstand bedachte Ritual, der Vater verlässt Tisch und Haus, die Mutter wirft das Geschirr zu Boden, die drei Mamsellen bringen die Buben zu Bett. Vor dem Einschlafen aber drängen diese den Großvater, ihnen eine Geschichte vorzulesen: „Die Zauberflöte“.
Was dann in elf Kapiteln abrollt, ist eine in erster Linie kindliche Fantasiewelt, die die bekannten Figuren der Oper einerseits aus der konkreten Lebenswirklichkeit, andererseits wie aus der Spielzeugkiste der Knaben holt. Also ist Prinz Tamino eine Art Nussknacker, Papageno der Geflügellieferant (der bei seinem Auftrittslied mit einer blutigen Metzgerschürze schon einmal andeutet, dass er das Federvieh nicht nur liebevoll behandelt). Die Königin der Nacht ist eine Art Muttertier als gehörntes Fabelwesen. Die drei Hausmamsellen mutieren zu den Drei Damen, die wie eine kleine Armada der Heilsarmee mit Flinten einen durch eine spektakulär lodernde Flammenzunge imaginierten bösen Drachen durchs Fenster erledigen. Der Mohr Monostatos wird zu einem außenseiterischen Diener, und folgerichtig heißt es in seinem Lied jetzt: „weil ein Diener hässlich ist“.
Je nach Alter der Knaben – und das ist ein so durchdachter wie genau durchgearbeiteter, vielschichtig lesbarer Kunstgriff – ist die Wahrnehmung verschieden. Der kleinste der drei fabelhaft großartigen Wiener Sängerknaben (die dafür auch den stürmischsten Applaus ernten) ist naturgemäß der sensibelste, klammert sich gern an seinen Teddy und sorgt sich rührend um den mit einem Schloss vor dem Mund geschlagenen Papageno, der älteste spürt während der Bildnis-Arie des „Nussknacker“-Tamino neugierig durchaus schon selbst aufkeimende Liebesgefühle.
Der Großvater hat klarerweise eine andere Perspektive, sieht alles durch die Brille seines gereiften Lebensalters. Der wenige Tage vor der Premiere für den erkrankten Bruno Ganz eingesprungene Klaus Maria Brandauer (der aus der Ferne komischerweise wie ein anderer großer Opa der Bühne, der von ihm präferierte Regisseur Peter Stein, ausschaut) nimmt sich nicht nur dezent, sondern auch lebensweise zurück, legt aber seine Lebenswirklichkeit deutlich genug ins melancholisch durchschauende Spiel. Auch da zeigt sich, dass Lydia Steier das Handwerk der Regie beherrscht, weil sie aus kleinen Gesten und Gängen individuelle Charaktereigenschaften formen kann.
Ganz der bunten kindlichen Fantasiewelt (Kostüme: Ursula Kudrna) scheinen die „Eingeweihten“und die bei ihnen gefangene Pamina zu entspringen. Sie sind ein Trupp von Zirkusartisten, eine bunte Jahrmarktsgauklerschar. Sie vollführen auch dementsprechende Kunststücke. Angeführt werden sie von ihrem Zauberer Sarastro. Und jetzt ist man dann doch als Zuschauer, der die sich immer neu auf- und auseinandergefaltete Bühnengerüstlandschaft mit glühbirnenbestücktem Räderwerk kaum noch in allen Elementen überblicken kann, wie in Alexander Kluges berühmtem Film „Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“genau Letzteres.
Offenbar suchen die Mannen des Sarastro den „neuen Menschen“im Sinne sozialistischer Doktrin. Isis und Osiris sind durch Fahnen entsprechender Propagandamotive verbildlicht, und an den leuchtenden Rädern drehen zwei ikonische Männer der Arbeiterbewegung sozusagen das Rad der Zeit vorwärts. Durch das dem Mann auferlegte Schweigegebot werden auch die Liebesbande zwischen Tamino und Pamina zerstört, die zierliche Artistenfrau fast in Wahnsinn und Tod getrieben. Das alles ist dramaturgisch einleuchtend gedacht, aber in der Handlungsführung je länger je mehr überfrachtet – bis hin zur Feuerund Wasserprobe, zu der das „gewandelte“Paar sich wimmelnde Bilddokumente vom Grauen des Ersten Weltkriegs anschauen muss, die auch bei den Kindern traumatische Reaktionen hervorrufen.
Dass der Großvater, der diese Bilder vielleicht real erleben musste, die Buben dann mit einem freundlichen Klaps ins Bett schickt und das Märchenbuch einfach zuklappt, ist nicht die einzige Ungereimtheit in der die Fülle der Ansätze und Ideen nicht mehr bändigenden Regie. Da wirkt im Endeffekt doch zu vieles auch viel zu flach gedacht, wie ein grotesker Albtraum-Comicstrip, dem sowohl die Tiefenschärfe abgeht, wie er auch – und das wiegt weit schwerer – das ganze poetische Potenzial einer „Zauberflöte“, vor allem: ihren Witz und Humor verschenkt. Lydia Steier bricht radikal mit lieb gewonnenen Gewohnheiten und setzt auf ein rabenschwarzes, einschüchternd finsteres, auswegloses Märchen. Das aber ist entschieden zu eindimensional.
Das Dunkle, Unerhörte: Das sucht auch der Dirigent Constantinos Carydis in unentwegter Tiefenbohrung, mit vereinzelten faszinierenden Ergebnissen, wenn er etwa Chöre aus dem Off in leisesten Tönen mehr erahn- als hörbar positioniert oder den Bläserstimmen akzentuierten Vorzug gegenüber einem „softigen“Streichersound gibt. Erstaunlich, wie selbstvergessen „dienend“die Wiener Philharmoniker diesen Weg mitgehen, der nicht nur dynamische Extreme auslotet, sondern vor allem Temporelationen im oft abrupten Wechsel von Raserei und Stillstand ins Manierierte verschiebt.
Das hat im Gesamten fast einen Zug ins Neurotische, und man darf sich fragen, ob „Die Zauberflöte“dafür dann nicht doch das falsche Stück ist – und auch am falschen Ort. Denn die Dimensionen des Großen Festspielhauses saugen das Gewollte letztlich ungebührlich aus. Alles Pralle, Sinnliche, Pulsierende, Prickelnde, bunt Lebendige ist diesem Abend seltsam fremd.
Mit den Dimensionen zu kämpfen haben – mit Ausnahme von Albina Shagimuratova als Königin der Nacht, die indes für sie bereits eine Grenzpartie ist – alle anderen, eigenartig leicht besetzten Stimmen. Selbst das so wunderbar lyrische Organ von Christiane Karg als Pamina verweht im weiten, zu offenen Bühnenraum, Mauro Peter braucht als Tamino einen langen Anlauf, um zu konturierter Form zu gelangen, Matthias Goerne, dieser intelligent geschmeidige, wohltönende Bariton, kann mit liedhafter Attitüde nicht übertünchen, dass er keinen Sarastro-Bass hat, auch wenn ihm der Dirigent in der Tiefe leisestes Accompagnement schenkt.
Ziemlich farb- und dank der Regie auch witzlos agiert Adam Plachetka als Papageno, unscheinbar bleibt Michael Porter als Monostatos, uneinheitlich und doch nicht individuell genug konturiert wirken die Drei Damen Ilse Eerens, Paula Murrihy und Geneviève King, einen obligat hübschen Auftritt hat Maria Nazarova als Papagena. Da wird man den Eindruck nicht los: Das sind alles Stimmen, die in einem kleineren Raum eine ansprechende „Zauberflöte“singen könnten. Und so bleibt am Ende dann doch deutliche Enttäuschung zurück. Auch der kritische Berichterstatter ist, gleichsam ohne Zirkuskuppel: ratlos. Oper: