Liebende tollen im Spiel wie in der Schlacht
„Penthesilea“erobert die Abgründe von Liebe und Begehren und wird zu einem Hochfest für Kleist und die Schauspielkunst.
Zwei Verliebte suchen einander. Sie schäkern. Sie nähern sich und fliehen wie im Fangenspiel. Sie jagen einander so heftig, dass sie außer Atem kommen. Er nennt sie „Königin“. Sie sagt zu ihm „süßer Neridensohn“. Er tut ein wenig entsetzt, dann reizt er sie gar, wenn er ihr zuruft: „Gefangene!“Da wird sie grimmig, dann aber wieder kokett und ruft: „Jüngling! Gott!“
Mit diesem schnellen, heftigen Geplänkel, bei dem Sandra Hüller und Jens Harzer auf der Bühne des Landestheaters wie auf einem Spielplatz längs und quer und rundherum laufen, beginnt „Penthesilea“bei den Salzburger Festspielen. Die Bühne ist bloß schwarz, aber was für ein Schwarz! Bühnenbildner Johannes Schütz hat vorne quer über den Boden auf dem Orchestergraben eine markante Neonleuchte als einziges Bühnenlicht gelegt. Der Zuschauerraum bleibt erhellt, und der Bühnenraum wirkt bis tief hinein wie mit schwarzem Samt ausgekleidet. So entsteht ein kraftvolles, raumgreifendes Dunkel, das ein Schlund ebenso sein kann wie die endlose Weite des Weltraums oder das ausgangslose Innere eines Kokons. Hier begegnen wir der Königin der Amazonen und dem König der Athener, Penthesilea und Achill.
Regisseur Johan Simons hat sie all ihrer Entourage entledigt. Es gibt keine Heere; keine Prothoe steht Penthesilea zur Seite; keine Oberpriesterin der Diana maßregelt sie; Achilles ist keinen Heerführern Rechenschaft schuldig. Hier sind bloß diese beiden herrlichen, draufgängerischen Liebenden, die in Leidenschaft füreinander brennen.
Ohne die anderen Rollen wird Heinrich von Kleists „Penthesilea“um eine Säule amputiert: Die Verantwortung der beiden Hauptfiguren, denen die Bewahrung einer heiligen Tradition – heute würde man sagen: der Schutz der Verfassung – ihres jeweiligen Volkes obliegt, ist in dieser Neuinszenierung nicht mehr eine durch Menschen vertretene Realität, sondern nur noch erzählerisches Accessoire. So verlieren die Verpflichtungen der beiden für ihren jeweiligen Staat jene unausweichliche Brisanz, die beide ins tragische Ende katapultieren wird: Nur als Sieger kann jeder diese Liebe vom Innen- ins Außenverhältnis tragen. Wer sich aber auf einen die Liebe rettenden Kompromiss einließe, würde Gesetz und Ehre seines Volkes zerstören.
Ohne diese staatstragende Konsequenz dieser Liebe zweier Könige verlieren einige Szenen an Dringlichkeit – etwa wenn der in einer Schlacht unterlegenen, verletzten Penthesilea vorgetäuscht wird, sie sei Siegerin und Achill sei ihr Gefangener. Manche Sätze sagt Sandra Hüller auch als fast tödlich getroffene Penthesilea aufrecht stehend und mit sonderbarer Leichtigkeit.
Ohne die Nebenfiguren öffnet Regisseur Johan Simons anhand der Textfassung des Dramaturgen Vasco Boenisch aber ein anderes Feld: die Zweisamkeit, wie sie nur zwei ineinander Verliebten zuteilwird. Hier in Salzburg erzählen Achilles und Penthesilea selbst von der Einmischung der Amazonen in die Schlacht zwischen Trojanern und Griechen und der ersten Begegnung der zwei Heerführer im Kampf. Was in Kleists Original andere über sie berichten, geben sie in Ich-Form wieder. Mühelos wird so – teils in Selbst-, teils in Zwiegesprächen – die Geschichte der beiden aufgerollt. Denn allein die bild- und sprachgewaltige Erzählung bringt schon alles zum Leuchten. So wird dieser traute Raum, den sich da zwei einander begehrende Menschen im Reden und im Zusammensein schaffen, ein irres Gebilde aus realer Mitteilung, verzerrendem Wunsch und gieriger Leidenschaft.
Dieser Raum kann zum Elysium werden oder zum Schlachtfeld, von dem Kleist so viel schildert. Dieser tief im Dunkeln wurzelnde Raum der erotischen Zweisamkeit weitet sich mit der Fantasie, mit der Sehnsucht und an diesem Abend auch noch mit der sprachlichen Grandezza Heinrich von Kleists und zwei großartigen Schauspielern. So wird die neue „Penthesilea“, die am Sonntag Premiere hatte, ein doppeltes Hochfest: für Kleists Poesie und die Schauspielkunst.
Jens Harzer ist grandios. Ohne Pathos, in aller Vielschichtigkeit des aggressiven, sehnenden, begehrenden, verletzlichen, kämpferischen, zärtlichen Mannes, in ernsthaftem Zorn ebenso wie mit ironischen Pointen trägt er souverän Kleists Sprache in einem stetigen, kraftvollen Flug durch die zweistündige Aufführung. Wie sehr dieser Mann sich der Frau zuzuwenden willig ist, zeigt sein Gewand: Kostümbildnerin Nina von Mechow lässt ihn zumeist einen ebenso knöchellangen Rock tragen wie Penthesilea.
Sandra Hüller hält ihre Stimme oft in hoher Lage. Dort ist sie Meisterin – etwa im Bezirzen, im Jauchzen oder im Triumphieren. Ihre drei Schreie, hoch und lang wie Sirenen, nachdem Achill ihr die Lüge seiner Unterlegenheit und sein Ansinnen ihrer Gefangennahme und Unterjochung offenbart hat, wirken wie lange, schmerzhafte Nadelstiche. Da und im Entwickeln der Erzählung ist ihre Stimme intensiver und besser verständlich, als wenn es gilt, in Tümpeln von Rage und Rache zu schöpfen. Aber ihre Körperlichkeit! Sie spielt und spricht mit ihrem Körper wie eine Virtuosin mit ihrem Instrument, dem sie ein immenses Repertoire an Bewegungen, Haltungen und Gesten entlockt. Als Achilles sie nach einer Schlacht aufhebt, kauert sie sich mit betörender Leichtigkeit an seine Brust und seinen Hals. In hingebungsvollem Anschmiegen bezwingt sie jede irdische Schwerkraft, sodass es nicht einmal anmaßend wirkt, wenn Achill dazu sagt: „Wie ich sie liebe (…) Mein ist sie!“
Indem von den martialischen Kämpfen bloß erzählt wird, ermöglicht Johan Simons einige delikate Momente, die in ein waffenstarrendes, bluttriefendes Trauerspiel nicht passen würden. Hier ist auch Platz für Ironie, Schadenfreude oder gar Humor, wenn etwa die stolze, sich als Siegerin wähnende Penthesilea plötzlich den splitternackten, nur noch Schuhe und Socken tragenden Jens Harzer vor sich sieht, der ihr erklärt: „So sieh mich doch nur an, Verlorene – ! Steh ich nicht ohne Waffen hinter dir?“Da rettet sich Sandra Hüller in ein wunderbar peinlich berührtes Stammeln, bis sie sagen kann: „Nun denn, so sei mir, frischer Lebensreiz, Du junger, rosenwang’ger Gott, gegrüßt!“
Wie feinsinnig, ideenreich, das Grausame bis hin zum Sadismus nicht scheuend und zugleich immer wieder witzig diese Inszenierung und diese beiden Schauspieler sind, sei noch an einem Detail geschildert: Die große Szene der Begegnung der beiden Könige, in der sie einander die Liebe gestehen, endet – Achill ist wieder angezogen – in köstlichem Geplänkel. Was küsst, zärtlich wie ausgiebig, die Salzburger Penthesilea als Achills empfindlichste Stelle? Seine legendäre Ferse. Dem folgt ein heiteres Hin und Her, ein ausgelassenes Lachen, in dem Achills Anmaßung „Du sollst den Gott der Erde mir gebären!“zur lustigen Blödelei wird – bis Achilles alles vergällt, indem er klarmacht: Er sei Sieger, sie sei Gefangene, sie habe sich unterzuordnen.
Allein mit Sprache und Schauspiel lässt sich auch die Grenze von Traum und Realität überwinden. So findet Johan Simons für diesen intensiven Machtstreit zweier Liebender ein faszinierendes Ende. Dafür holt er sich zwei Zeilen aus der Mitte des Stücks ans Ende. Sie fragt: „Verzeihst du mir?“, worauf er erwidert: „Von ganzem Herzen.“
Zum Schluss erzählen die beiden – wie Kleist es vorgibt – von der letzten, fatalen Schlacht, zu der Achilles unbewaffnet kommt. Doch sie, die Belogene und Erniedrigte, jagt Hunde auf ihn, tötet ihn und zerstückelt seinen Leib. Im Landestheater stehen Achilles und Penthesilea, als dies geschieht, an der Rampe. Sie sind einander ähnlich nahe und in ähnlich losen Berührungen verbunden wie vielleicht zwei schlafende Liebende nachts in einem Bett. Was in dieser Nacht war real? Was war effektiver, in körperlichen Kampf ausartender Zank? Was war Albtraum vom einen oder vom anderen? Was aus ihren Träumen haben sie einander erzählt? Was einander gestanden, sodass der Gestehende bittet: „Verzeihst du mir“?
Diesen auch in Kleists Text wundersamen Tod der Penthesilea spielen Sandra Hüller und Jens Harzer zwei Mal durch – jeweils mit anderen Nuancen. Offenbar wachen sie auf, irgendwie erfrischt. Denn sie gickst und gurrt wieder, ruft ihn „junger Kriegsgott!“, sodass er neuerlich zu fragen beginnt: „Wer bist du, wunderbares Weib?“Und beide laufen wieder über die Bühne, tief hinein ins Dunkel und wieder heraus, sie fliehen und jagen einander, turteln und lachen ein wenig, und Achilles sagt: „Und jeder Busen ist, der fühlt, ein Rätsel.“ Schauspiel: „Penthesilea“von Heinrich von Kleist, Salzburger Festspiele, Koproduktion mit dem Schauspielhaus Bochum, Regie: Johan Simons, bis 9. August.
„Verflucht das Herz, das sich nicht mäß’gen kann.“ Penthesilea „Was tust du? Ist dies das Rosenfest, das du versprachst?“ Achilles „Küsst’ ich ihn tot? Nicht? Küsst’ ich nicht? Zerrissen wirklich?“ Penthesilea