„Ich baue mit Schnee von gestern“
In Gmunden gibt es in den nächsten Tagen ein „Fest für Michael Köhlmeier“– zuvor erklärt er, wie aus dem, was wir Geschichte nennen, Geschichten werden.
Der Vorarlberger Michael Köhlmeier gehört seit Jahren zu den wichtigsten Schriftstellern des Landes. „Aus dem Schnee von gestern baut der Erzähler seine Geschichten“, sagt er in seinem Interview mit den SN. Denn für ihn gilt: „Geistloser GegenwartsEvent – gibt es etwas Schrecklicheres?“Der 68-Jährige gehört zu denen, die sich auch jenseits ihrer Literatur in den aktuellen politischen Diskurs einmischen. Zuletzt tat er das im Mai etwa mit einer scharfen Rede bei einer NS-Gedenkveranstaltung des Parlaments. In den kommenden Tagen werden Köhlmeier und sein Werk im Mittelpunkt der Salzkammergut Festwochen in Gmunden stehen. „Wir sind – auch –, was andere vor uns gewesen waren. Ohne diese These ist Geschichte pure Unterhaltung“, sagt der Schriftsteller über die Bedeutung der Geschichte für seine Geschichten – und auch für jedes Leben.
Der Vorarlberger Michael Köhlmeier gehört seit Jahren zu den wichtigsten Schriftstellern des Landes. Und der 68-Jährige gehört zu denen, die sich auch jenseits ihrer Literatur in den aktuellen politischen Diskurs einmischen. Zuletzt tat er das im Mai etwa mit einer scharfen Rede bei einer NS-Gedenkveranstaltung des Parlaments. Nach einem Auftritt im Rahmen der „Disputationes“bei der Ouverture spirituelle stehen der Dichter und sein Werk in den nächsten Tagen im Mittelpunkt der Salzkammergut Festwochen in Gmunden. SN: Herr Köhlmeier, in Ihren Romanen öffnen Sie gern Geschichtsräume, die das 20. Jahrhundert erfahrbar machen. Brauchen wir heute verstärkt eine Geschichtsbindung gegen grassierendes Vergessen? Köhlmeier: Wir wissen heute mehr über Geschichte, als je vor uns gewusst wurde. Vergessen ist nicht das Problem. Jedes halbe Jahr kommen wunderbare historische Werke auf den Markt. Ich fürchte aber, die oftmals begeisterte Beschäftigung mit der Geschichte ist wenig daran interessiert, die Vergangenheit mit der Gegenwart in Beziehung zu setzen. Wir sind – auch –, was andere vor uns gewesen waren. Ohne diese These ist Geschichte pure Unterhaltung. SN: Die österreichische Regierung und Geschichtsbewusstsein – passt das zusammen? Wenn unser Kanzler sagt, ein Begriff wie „Achse Berlin-Rom“sei für ihn völlig normal und historisch nicht belastet, dann frage ich mich wirklich, bei wem hat er in der Schule Geschichte gelernt, sein Geschichtslehrer sollte die Matura nachholen. Die doppelte Peinlichkeit dieser Bemerkung besteht darin, dass Herr Kurz offensichtlich nicht merkt, wie peinlich sie ist. SN: In Ihren Büchern liest man von den Verwerfungen des vorigen Jahrhunderts: Exil, Flucht, die Torheiten und Anmaßungen der Macht. Kein Schnee von gestern? Aus dem Schnee von gestern baut der Erzähler seine Geschichten. Das Imperfekt ist die Form, in der ich mich bewege. Die Gegenwart ist entweder pure Aktion, über die man im Nachhinein, eben wenn sie Vergangenheit geworden ist, nachdenkt, dann spricht man von ihr im Imperfekt. Geistloser GegenwartsEvent – gibt es etwas Schrecklicheres? SN: Ihre Bücher haben den Anspruch, Grenzen zu überschreiten, solche der Zeit (antike Mythen) und des Ortes. Darf man das als Versuche sehen, uns in einem großen Europa der außerordentlichen Ideen zu verankern? Das wäre doch schön! Bevor ich den Kontinent betrete – in einem übertragenen Sinn, ich meine, bevor ich ihn mir als Identität erobere –, breite ich einen Erzählteppich darüber. Da ist die hebräische Mythologie mit der Bibel und all den Apokryphen, da sind die unzähligen antiken Sagen, da fließt ein breiter Strom aus dem Morgenland zu uns, „Tausendundeine Nacht“oder das „Papageienbuch“, da sind die höchst merkwürdigen christlichen Legenden, „Legenda aurea“, „Gesta Romanorum“, und endlich sind da die Märchen, meine Lieblinge, Tausende von Geschichten und Figuren. SN: Auch in Ihrem neuen Roman „Bruder und Schwester Lenobel“, er erscheint Ende August, sehen wir, wie die Vergangenheit Menschen nicht loslässt. Hanna kann „nichts vergeben und nichts vergessen“. Sind wir alle Opfer unserer eigenen Geschichte? Opfer und zugleich Profiteure – die Geschichte ist aber vor allem ein Geschenk. Eigentlich geht mich die Geschichte ja nichts an, niemand kann mich dafür verantwortlich machen, was Menschen vor meiner Zeit getan oder gelassen haben. Aber jede Generation erkundet, was der Mensch alles noch ist. Und so erfahren wir immer etwas Neues über uns, ich erfahre etwas über mich und staune über die Gattung, der ich angehöre. Ich bin alle Menschen in Potenz. Shakespeare hat uns gezeigt, was der Mensch alles ist. Er hat den Menschen für jeden von uns neu erfunden, gefunden. Shakespeare, im Unterschied zu den meisten anderen Dichtern, sagt: Wie Lear ist, könntest du auch sein, wie Hamlet ist, könntest du auch sein, oder wie Macbeth, Othello, Rosalinde in „Wie es euch gefällt“. Zu Ihrer Frage: Ja, wir sind auch Opfer. Wir sind aber auch Autoren unserer Geschichte, Regisseure. SN: Wenn Sie auf die österreichische Politik schauen: Macht sich ein Mangel an geisteswissenschaftlicher Bildung und Empathie bemerkbar? Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. SN: Erwarten Sie noch etwas von unserer Regierung? Ich erwarte viel von Heinz Faßmann, dem Wissenschaftsminister. Mit ihm würde ich mich gern unterhalten. Vielleicht kommt er ja im Herbst nach Lech zum Philosophicum. Den Gegenpol zu ihm bildet Innenminister Kickl. Er ist ein wunderlicher Wirrkopf. Man sollte sich vor ihm weniger fürchten, als über ihn lachen.
„Innenminister Kickl – er ist ein wunderlicher Wirrkopf.“Michael Köhlmeier