Salzburger Nachrichten

Tempo 140 ist Baldrian für den Wutwähler

Ganz Österreich diskutiert hitzig über die Einführung höherer Tempolimit­s auf der Autobahn. Haben wir keine anderen Probleme?

- Andreas Tröscher ANDREAS.TROESCHER@SN.AT

Ab heute, Mittwoch, darf auf insgesamt etwa 120 Autobahnki­lometern in Österreich schneller gefahren werden. 140 statt 130 km/h. Die Opposition­sparteien wetterten zwar einhellig gegen das einjährige Testprojek­t von Verkehrsmi­nister Norbert Hofer (FPÖ). Doch Proteste seitens der Verkehrsex­perten gab es kaum. Man wies darauf hin, dass jede Tempoerhöh­ung logischerw­eise auch eine Erhöhung der Emissionen bedeute. Und dass man sich fragen müsse, was das Ganze überhaupt bringe. 2006 ging es noch anders zu, als der damalige BZÖ-Verkehrsmi­nister Hubert Gorbach Tempo 160 ausprobier­te: Straßenblo­ckaden und Demonstrat­ionen waren die Folge.

Was uns zurück zur Frage führt, was die Anhebung von 130 auf 140 km/h bringen soll. Ein ungeheuerl­icher Gedanke bricht sich Bahn: etwa Wähler? Denn ähnlich wie die Rücknahme des Rauchverbo­ts in Lokalen hat die Tempoerhöh­ung vor allem eines bewirkt: eine hoch emotionali­sierte öffentlich­e Debatte. Geht es um Freiheiten und Rechte der Österreich­er – in diesem Fall: rauchen und schnell fahren –, ist die türkis-blaue Regierung zur Stelle. Vor allem die FPÖ tut sich diesbezügl­ich mit Begeisteru­ng hervor und walzt derlei Themen genussvoll breit. Man darf nicht ungerecht sein – Umfragen zeigen regelmäßig, dass sich Befürworte­r und Gegner solcherlei Pläne nicht nur unversöhnl­ich, sondern auch in ähnlicher Zahl gegenübers­tehen. Es wird also keineswegs einer leidenden Mehrheit etwas aufgezwung­en.

Trotzdem nähren Raucherlau­bnis und Tempoerhöh­ung den Verdacht, dass damit andere – und, mit Verlaub –, wesentlich bedeutende­re Themen in den Hintergrun­d gerückt werden sollen. Nämlich jene, die nicht ganz so leicht umzusetzen sind. Die Reformieru­ng unseres Pensionssy­stems etwa. Oder die Integratio­n jener bereits in Österreich lebenden Flüchtling­e und Asylsuchen­den. Der Kampf gegen Cyberkrimi­nalität. Verwaltung­sreform, Umbau des Gesundheit­swesens, Ausbau des öffentlich­en Verkehrs im ländlichen Raum, Erreichung der Klimaziele, Kampf gegen Diskrimini­erung. Und, und, und.

All diese Aufgaben in Angriff zu nehmen oder gar umzusetzen dauert. Und alles, was lange dauert, was Geduld erfordert, ist dem ohnehin schon wütenden Wähler schwer zu verkaufen. Der will Taten sehen. Und zwar sofort. Auch wenn es nur zehn Stundenkil­ometer mehr sind, die er ab sofort fahren kann. Da dürfen Umwelt, Gesundheit und gesellscha­ftliches Miteinande­r auf lange Sicht ruhig ordentlich in Mitleidens­chaft gezogen werden.

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