Das Neue steht längst im Zentrum
Der Status von zeitgenössischer klassischer Musik als Schreckgespenst ist obsolet. Die Salzburger Festspiele beweisen permanent, dass sie in die Mitte des Programms gerückt ist. Verbringen Sie beispielsweise „Zeit mit Beat Furrer“.
Vielleicht sollten wir tatsächlich schön langsam das (Vor-)Urteil überwinden, die (klassische) Musik des 20. Jahrhunderts als Schreckgespenst des Modernen zu klassifizieren. Immerhin haben wir bereits fast zwei Dezennien des 21. Jahrhunderts hinter uns, was allein schon in der zeitlichen Perspektive eine erweiterte Definition von Moderne verlangen würde. Dass in dieser Zeit längst auch schon „klassisch“zu nennende Meisterwerke geschaffen wurden, zeigt nicht zuletzt ein österreichisches Trio: Olga Neuwirth, Georg Friedrich Haas und Beat Furrer (den 1954 geborenen Schweizer darf man aufgrund seines langjährigen und folgenreichen Wirkens in Österreich gut und gern hier eingemeinden). Ihm ist bei den Salzburger Festspielen nun eine vierteilige Personale gewidmet, die unter dem Titel „Zeit mit Furrer“zentrale Werke seines Schaffens in Verbindung mit alter und gleichsam befreundeter zeitgenössischer Musik bringt: Prisma und Panorama zugleich.
Da sollte man in einem Atemzug gleich mit einem weiteren, nicht auszurottenden (Vor-) Urteil aufräumen: dass die Salzburger Festspiele ein Hort des Bewahrenden, ein Laufsteg der musikmedial befeuerten Stars oder ein Mekka der „Edel-Klassik“seien. Wer die beziehungsreichen Programme nicht nur der nun im zweiten Sommer angelangten Intendanz von Markus Hinterhäuser (und seines „Vorlebens“als Schöpfer des „Zeitfluss“und als Konzert- und Interimschef), sondern auch seiner Vorgänger von Gerard Mortier bis Jürgen Flimm überblickt und analysiert, kann guten Gewissens nicht behaupten, dass die „moderne“Musik – was immer das auch sein mag – nicht im Zentrum der Salzburger Festspiele angekommen wäre. Sie ist unverrückbarer und nicht auseinanderzudividierender fixer Bestandteil. Und oft ein Publikumsmagnet.
Als Beispiel mag man den ersten Abend der „Zeit mit Furrer“nehmen, das Musiktheater „Begehren“, 2001 in Graz uraufgeführt, der vermittelnden Pionierarbeit des vor einem Jahr gestorbenen damaligen Intendanten des „steirischen herbstes“, Peter Oswald, zu verdanken und nach 17 Jahren frischer, großartiger, bewegender denn je. Die Kollegienkirche war am Montag bestens besucht, die Hörer auf vorbildliche Art konzentriert, mucksmäuschenstill über 90 pausenlose Minuten, der Beifall stark, heftig, lang und von spürbar ehrlicher Intensität. Ähnliche Erfahrungen ließen und lassen sich mit der Zeit laufend bestätigen. Allein der nachhaltige Eindruck, den einst womöglich als Risikofaktoren einzuschätzende (Bühnen-)Werke von Bernd Alois Zimmermanns „Soldaten“bis Aribert Reimanns „Lear“zuletzt bei den Salzburger Festspielen hinterließen (freilich sind das schon klassische Meisterwerke des 20. Jahrhunderts), spricht eine deutliche Sprache.
Das Publikum also ist bereit, sich auf Anderes als den klassischen Kanon einzulassen. Das wird ihm freilich auch abgegolten durch die Kunst selbstverständlich gewordener Meisterschaft der Interpretation – womit wir von einer anderen Seite wieder bei Beat Furrer wären. Er gründete 1975 jenes Klangforum Wien, dem man längst den Status der Wiener Philharmoniker der Neuen Musik zubilligen darf. Auch jetzt, unter Furrers eigener Leitung, merkte man, dass die großartigen Musikerinnen und Musiker solche Musik in den Genen haben wie die Philharmoniker ihre genuine, unverwechselbare Klangkultur.
Die zehn Szenen des „Begehrens“rekurrieren auf die Orpheus-Sage, auf die Suche nach einander und nach sich selbst. Es ist der falsche, unkontrollierte Blick, der den mythischen Sänger und Eurydike – hier nur ER (als Sprecher) und SIE (als Vokalistin) genannt – ins Verhängnis führt. Da kann man, nebenbei, auch eine feine Koinzidenz zum „Blicke-Theater“der „Salome“herstellen. Die Texte von Ovid, Vergil, Hermann Broch, Cesare Pavese und Günter Eich sind nicht vertontes Material, sondern assoziative Folie über einer magischen Klanglandschaft von schattenhafter bis hauchzarter Poesie, deren suggestiver Wirkung man sich nicht entziehen kann. Das ist ein unbedingtes Qualitätssiegel des Werkes, seiner inneren und äußeren Spannung, seiner sensitiven (Er-)Fassbarkeit. Es braucht aber auch das unbedingte Sich-Einlassen von kenntnisreichen Interpreten – in diesem Fall Katrien Baerts und Christian Reiner, das Klangforum, der erst 2016 gegründete Projektchor Cantando Admont (eine Entdeckung) und Klangregisseur Peter Böhm –, die das Komplexe selbstverständlich zu übermitteln vermögen.
Wenn solche Parameter stimmen – und die Salzburger Festspiele zeigen permanent, wie und dass das geht –, wird noch nicht vertraute Kunst im besten Sinne Vertrauen gewinnen. Neue Musik braucht keinen „Exotenstatus“. Sie braucht (und schafft) Präsenz.