1978 Auf der Ruine des Fortschritts
Knapp 30.000 Stimmen machten im November 1978 den Unterschied: Österreich wurde zum Land, das die Atomenergie abdrehte, bevor sie zum Strahlen beginnen konnte. Das Verständnis von Demokratie war danach ein anderes.
Zwentendorf ist eine Marktgemeinde. Knapp 4000 Einwohner. Die Ortstafel dieses Nests in Niederösterreich wurde in Österreich aber Symbol für eine Grenze – eine Grenze, die auch gezogen werden kann zwischen einer alten und einer neuen Welt, zwischen einem obrigkeitshörigen Verständnis von Demokratie und einem Verstehen von Demokratie, in dem das Volk ganz unmittelbar, direkt entscheidet. Am frühen Abend des 5. November 1978 schaute das Land also nach Wien, weil es dieses Zwentendorf gab.
Zwentendorf – das stand an diesem Abend längst nicht mehr nur als Ortsname einer kleinen Marktgemeinde im Tullnerfeld mit einem umfassenden Heurigenkalender und einem Campingplatz an der Donau. Zwentendorf war – so sahen es die einen – die schon fertig errichtete Zukunft des Landes, der in Beton gegossene Fortschritt. Und überhaupt würde ohne Zwentendorf das Licht ausgehen, stand auf Plakaten. Zwentendorf war kein Ort mehr. Zwentendorf war ein Atomkraftwerk. Und um dessen Anschluss an das Netz tobten schwere Kämpfe.
Im Jahr 1972, Bruno Kreisky war im zweiten Jahr Bundeskanzler, erfolgte der Spatenstich für das Bauprojekt „Atomkraftwerk Zwentendorf“. Vier Jahre wurde an dem Siedewasserreaktor gebaut. Lang verlief das ruhig. Ab 1975 – gut ein Jahr, nachdem mit dem Unglück in der Wiederaufarbeitungsanlage Windscale im englischen Sellafield erstmals ein Atomunfall breit publik geworden war – begann sich Widerstand zu rühren. Im Herbst 1976 startete die Regierung eine Infokampagne, um die Nutzung der Atomenergie zu rechtfertigen. Es war der Zeitpunkt, zu dem aber erstmals nuklearkritische Artikel in Zeitungen erschienen.
Es formierte sich die „Initiative österreichischer Atomkraftwerksgegner“, die auf ihrem Höhepunkt 500.000 Menschen umfasste. Es gab spektakuläre Aktionen – etwa 1977 einen Protestmarsch von Salzburg nach Zwentendorf oder im gleichen Jahr einen Hungerstreik von neun Vorarlberger Müttern vor dem Bundeskanzleramt. Das Atomkraftwerk spaltete das Land. Dieser Spalt wurde größer und größer und „die Politik“wurde in die Enge gedrängt.
Menschen demonstrierten über Parteigrenzen und ideologische Hintergründe hinweg. Auf der einen Seite standen die Atomgegner. Auf der anderen standen viele, die zu den Mächtigen des Landes gehörten, zu jenen, die im „System“der Republik politisch eingebettet waren. Die SPÖ-Alleinregierung unter Bruno Kreisky, die meisten in der Gewerkschaft, die meisten Vertreter der Industrie und der Handelskammer sahen schwarz, wenn Zwentendorf nicht zum Strahlen kommen würde. Außerdem wurde gesagt, dass das Kraftwerk doch schon dastehe und eine Ablehnung der Inbetriebnahme auch Geldverschwendung sei. Tatsächlich waren bis zum November 1978 umgerechnet in heutige Währung rund 650 Millionen Euro in das Kraftwerk geflossen und bis zu seiner Liquidierung im Jahr 1985 kostete das Atomkraftwerk Zwentendorf über eine Milliarde Euro.
Die anderen hatten einfach nur Angst vor unkontrollierbarer Strahlung – und man hätte ja fragen können, bevor man baute.
Diese „anderen“waren Menschen, die nicht von Parteiräson oder Ideologie getrieben waren. Die Gräben verliefen zwischen Ideen, dem, was einerseits machtpolitischer Wille war, und dem, was andererseits der Hausverstand als schützenswert betrachtete. Der Graben tat sich um die Frage auf, was ein sicheres Leben, ein Leben in Wohlstand ausmachen soll. Die Atomenergie erfüllt für sehr viele nicht die Anforderungen, aus denen ein solches Leben geschaffen werden kann.
Schließlich entschloss sich Kanzler Kreisky, das Volk über die Inbetriebnahme des Kernkraftwerks abstimmen zu lassen. Der Druck war zu groß geworden, die Sache nur mehr als Chefsache zu betrachten. Und – wie manche aus Kreiskys engerem Umfeld von damals erzählen – war der absolute Kanzler zunächst recht sicher, eine Mehrheit für ein „Ja“zu bekommen. Und als es immer enger wurde, verknüpfte er den Ausgang der Abstimmung auch noch mit seinem persönlichen politischen Schicksal.
Am Abend der Abstimmung, am 5. November 1978, schauten also alle nach Wien, wo die Ergebnisse gesammelt und bekannt gegeben wurden.
BILD: SN/VOTAVA
1.576.839 Menschen (49,53%) stimmten mit „Ja“.
1.606.308 Menschen (50,47%) stimmten mit „Nein“.
Den Unterschied in ein Land vor und ein Land nach Zwentendorf machten also 29.469 Stimmen.
Folge der Nichtinbetriebnahme war im Dezember 1978 die Verabschiedung des Atomsperrgesetzes, nach dem in Österreich auch in Zukunft keine Kernkraftwerke ohne Volksabstimmung gebaut werden dürfen. Dieses Gesetz wurde 1999 durch das Bundesverfassungsgesetz für ein atomfreies Österreich verschärft.
Atomkraftbefürworter versuchten in den Jahren nach der Volksabstimmung immer wieder, die Stimmung zu drehen. Immerhin hatte man das Kraftwerk ja immer noch dastehen. Knapp acht Jahre später erledigten sich die Diskussionen. Am 26. April 1986 kam es im Block 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl in der Ukraine zu einem Super-GAU.
Ein halbes Jahr später zogen die Grünen, zu deren Gründungsmythen auch Zwentendorf gehört, erstmals in den österreichischen Nationalrat ein.