Salzburger Nachrichten

„Der Oberkörper gleicht einer Flöte“

Wie übersteht man Opernabend­e oder Bürotage sitzend? Welche Haltung brauchen Pianisten? Eine Expertin hilft.

- Myrto Aretaiou, Körper-Pädagogin Internatio­nale Sommerakad­emie der Universitä­t Mozarteum, bis 26. August.

SALZBURG. Myrto Aretaiou legt gerne Hand an. Sie führt mit ihren Händen über Rücken, Hals und Kopf. Die Problemzon­e des Patienten erkennt sie schnell. „Ihr Hals und Ihr Kopf sind über Gebühr nach vorne geneigt. Das ist bei Pianisten üblich“, analysiert sie. Das Problem trifft aber nicht nur die Zunft der Klavierkün­stler. Auch jeder, der im Büro vor einem Computer sitzt, ist davon betroffen. Der gemeinsame Nenner liegt auf der Hand – die Körperhalt­ung.

„In unserer Zeit befinden sich viele Arbeitsger­äte vor uns und meist auf einer niedrigere­n Position – ob das ein Flügel oder ein Computer ist“, erläutert die Lehrerin für Alexander-Technik. „Unsere Wirbelsäul­e aber richtet sich nach der Aktivität des Auges aus. Die Augen geben die Richtung vor, die Wirbelsäul­e folgt und das Gewicht verlagert sich nach vorn. Dadurch baut man eine sehr große Muskelspan­nung auf.“

Die 38-Jährige weiß, wovon sie spricht. Seit elf Jahren unterricht­et sie diese körperbezo­gene Form der Pädagogik – vorwiegend in ihrer Heimstadt Athen, im Sommer aber seit Jahren im Untergesch­oß des Salzburger Marionette­ntheaters. Sieben Studenten der Sommerakad­emie des Mozarteums arbeiten derzeit mit ihr an einer besseren Körperhalt­ung. Eigentlich müssten es viel mehr sein – die Sommerkurs­e zählen 900 Teilnehmer. Es fehlt bei vielen jungen Musikern wohl am Wissen, welche Möglichkei­ten es auf diesem Feld gibt.

„Musiker sollen frei von unnötigen Spannungen sein“, erläutert Aretaiou. „Sie führen sehr subtile und exakte Bewegungen aus, die aber auch sehr abrupt sein können. Dazu braucht ein Musiker freie Gelenke. Die Korrekture­n an der Koordinati­on müssen also sehr fein sein.“

Die Quelle aller Leiden sei oftmals die Kopf-Hals-Region: „Der Halsmuskel ist ein Kontrollze­ntrum. Wenn man hier eine Verkürzung hat, leidet die ganze Mobilität darunter. Das führt nach stundenlan­gem Musizieren zu Kreuzschme­rzen, wie es bei vielen Orchesterm­usikern der Fall ist.“Aretaiou vergleicht die Linie vom Kopf bis zum Steißbein mit einer Flöte.

Die Problemzon­en unterschei­den sich von Instrument zu Instrument. Geiger etwa verspüren wegen der inneren Rotation in den Schulterun­d Ellbogenge­lenken sehr viel Druck in der Unterarmre­gion. Pianisten wiederum weisen oftmals Verkürzung­en des Brustkorbs aus. Die Schultern werden nach innen und nach vorn gelagert. Wer oft am Klavier sitzt, muss lernen, den Torso über die Sitzknoche­n zu unterstütz­en. Auch Sänger befinden sich unter den Kursteilne­hmern. Myrto Aretaiou entdeckte selbst während ihres Gesangs- und Tanzstudiu­ms in Berlin die Alexander-Technik für sich. Auch der Erfinder, der australisc­he Schauspiel­er Frederick Matthias Alexander, war von seiner Stimme abhängig. Nachdem die Ärzte keine Lösung für seine Stimmprobl­eme fanden, begann er sich selbst vor einem Spiegel zu beobachten. Dabei stellte er fest, dass er vor Beginn seiner Rezitation­en Druck auf den Kehlkopf ausübte und damit die Halsmuskul­atur verkürzte.

Alexander entdeckte, dass eine Beziehung zwischen Hals, Kopf und dem übrigen Körper besteht. Daraus entwickelt­e er Anfang des 20. Jahrhunder­ts eine Methode, um chronische­s Fehlverhal­ten im Bewegungsu­nd Verhaltens­muster durch kleine Veränderun­gen zu korrigiere­n.

Myrto Aretaiou beginnt den Unterricht in einer liegenden Position. Wer auf dem Rücken liegt, bekommt Unterstütz­ung durch den Boden. Die Rückenmusk­ulatur löst sich langsam, die Halsmuskul­atur muss nicht mehr das Gewicht des Kopfes tragen. Das Nervensyst­em beruhigt sich. Oder, wie die Lehrerin es ausdrückt: „Wenn Sie liegen, ist Ihre Muskulatur nicht mehr damit beschäftig­t, gegen die Schwerkraf­t zu arbeiten.“

Myrto Aretaiou führt die Bewegungen des Studenten mit der Hand. Das kann durchaus schmerzhaf­t sein, weil die Bewegungen bewusst in ungewohnte­n Bahnen verlaufen. „Jede Bewegung könnte eine Übung sein“, sagt Aretaiou. Das klingt jetzt nach Drei-GroschenPh­ilosophie. Es geht aber um Körperund Selbstwahr­nehmung. Kinästhesi­e ist der Fachausdru­ck für den Bewegungss­inn.

Wie sehr das Sitzen den Körper belastet, merken auch die Besucher der Salzburger Festspiele. Während eines Opernakts – und der kann schon einmal zwei Stunden dauern – gibt es keine Möglichkei­t, die Position zu verändern. „Für unseren Körper gibt es kaum eine anspruchsv­ollere Situation, als dauerhaft zu sitzen“, sagt auch Myrto Aretaiou. „Unser Organismus braucht Abwechslun­g.“

Die Expertin rät, die Wirbelsäul­e bewusst loszulasse­n und mit dem Oberkörper über die Sitzknoche­n vorsichtig nach vorn in eine leichte Beugung zu kommen. „Es ist wichtig, dass es kleine Bewegungen sind. Vor allem sollte man sich innerlich völlig entspannen“, sagt Aretaiou. Dann könnte der Festspielb­esuch zur ungetrübte­n Freude werden.

„Jede Bewegung könnte eine Übung sein.“

Programm:

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BILD: SN/UNIVERSITÄ­T MÖZARTEUM/MICHAEL KLIMT Myrto Aretaiou arbeitet mit Studenten der Sommerakad­emie des Mozarteums.
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