Die neuen Gebirgsbewohner
Teile der Alpen erleben einen demografischen Aufschwung. Dank Städtern, die ihre Landliebe ins Gebirge verschlägt. Warum Experten dennoch vor einem „Kitzbühel-Effekt“warnen.
INNSBRUCK. Es war einmal in Amerika. – So könnte die Geschichte von Professor Ernst Steinicke vom Institut für Geografie der Universität Innsbruck anfangen, an deren Ende ein siedlungsgeografischer Trend steht, der für den österreichischen Alpenraum zukunftsweisend sein könnte.
Alles begann im Jahr 2001, als Steinicke im kalifornischen SierraNevada-Gebirge auf einen Trend aufmerksam wurde: Städter zog es aufgrund von Annehmlichkeiten wie Sicherheit, Abgeschiedenheit und landschaftlicher Reize wieder vermehrt in die Berge. „Dieses Wissen haben wir übertragen und sind damit auf die Alpen losgegangen“, erklärt der Projektleiter.
Die Ergebnisse in aller Kürze: Der demografische Aufschwung in den Alpen lässt sich statistisch nachweisen. Selbst in abgelegenen Gebieten, die von Abwanderung, niedriger Geburtenrate und hohem Altersdurchschnitt geprägt sind, findet seit mehreren Jahren ein Bevölkerungsaustausch statt, so das Ergebnis des vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekts im Jahr 2017. Dabei wurden insgesamt 70 Gegenden mit starker Zu- und Abwanderung in Slowenien, Frankreich, Italien und Osttirol untersucht.
„Wir müssen endlich weg von dem Gedanken kommen, dass das Gebirge eine reine Entvölkerungsgegend ist. Ja, die Regionen sind nicht so fertil, weil die Bevölkerung älter ist und die biologische Bilanz negativ ausfällt, also nicht genügend Kinder geboren werden. Aber es gibt vielerorts eine Zuwanderung.“
Diese Zuwanderer nennen Steinicke und sein Team „New Highlander“, frei übersetzt Neue Gebirgsbewohner. Menschen, die ganz bewusst von der Stadt ins Gebirge ziehen. „In den österreichischen Alpen betrifft das sowohl junge Menschen als auch ältere. Menschen, die sich eine Art Zweitwohnsitz auf dem Land schaffen, oder die mit der gesamten Familie umsiedeln“, erklärt der Projektleiter.
Die Gründe für die wiederentdeckte Landliebe seien vielfältig. „Viele wollen Abstand vom städtischen Raum. Sie sind gesättigt und suchen einen neuen Sinn. Immerhin mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt heute schon in Städten. Somit steigt der Wunsch nach Ruhe, nach Isoliertheit, aber gleichzeitig auch danach, die Vorteile der Stadt weiterhin zu nutzen“, erzählt Steinicke.
So seien eine gut ausgebaute Internetverbindung und öffentliche Verkehrsmittel ausschlaggebend für den Schritt aufs Land bzw. in die Berge. „Es gibt Menschen, die nur für einen Tag in die Stadt pendeln und die restliche Zeit auf dem Land verbringen“, sagt der Projektleiter.
Einen Unterschied zum klassischen Zweitwohnsitz sieht er klar in folgendem Umstand: „Die Neuen Gebirgsbewohner bringen sich in die Dorfgemeinschaft ein, sie mischen mit, werden Mitglieder in Vereinen, bereichern die Gemeinschaft durch ihre Impulse und helfen so der Umgebung, innovativ zu sein.“Was laut Steinicke nicht eintreten dürfe, sei der sogenannte „Kitzbühel Effekt“– dass die Zahl der Freizeitwohnungen und Zweitwohnsitze in einem Ort überhandnimmt. „Zweitwohnsitze belasten eine Gemeinde. Egal ob hinsichtlich Kanalisation oder Infrastruktur. Denken Sie an all die Promis, die in Kitzbühel wohnen. Die bringen der Gemeinde außer ihrem Namen nichts.“
Seit Jahrzehnten beschäftigt sich der Experte mit dem Thema der Migration aus der Stadt ins Gebirge. Eine ausschlaggebende Erkenntnis erlangte er aber erst vor wenigen Jahren. „Die Neuen Gebirgsbewohner werden nur dann dauerhaft bleiben, wenn die Naturrisiken gering gehalten werden. Man darf nicht vergessen, dass sich die Naturlandschaft durch die jahrhundertelangen Abwanderungsperioden völlig verändert hat. Vieles ist verbuscht, Bäche verklausen, die Chancen auf Naturkatastrophen steigen. Für eine Revitalisierung braucht es vor allem Bauern.“
Doch auch die finden sich laut Steinicke unter den Zuzüglern. Junge Menschen, denen zwar jedes Agrarwissen fehle, die dies jedoch durch ihren Einsatz wieder wettmachen. „Das sind keine Aussteiger, sondern Menschen, die den Sinn des Lebens suchen und sozusagen eine Art erweiterten Gartenanbau betreiben. Neue Farmer.“
Ein Faktor für die Flucht aufs Land dürften aber wohl auch die steigenden Wohnkosten in den Ballungszentren sein. Während jene in peripheren Lagen nach wie vor erschwinglich sind. „Was ein ganz klarer Unterschied zu unseren Erkenntnissen in Amerika ist. Dort sind die Kosten für ein Leben im Gebirge hoch.“
Nur eine einzige Region in Österreich profitiere von der Sehnsucht nach Bergen nicht. Der Ostalpenrand rund um das steirisch-südniederösterreichische Grenzgebiet sowie in Ostkärnten. „Bei dieser Region handelt es sich um das demografische Problemgebiet des gesamten Alpenraums. Nirgendwo sonst gibt es so eine hohe Abwanderung“, sagt Steinicke. Der Grund dafür seien Großgrundbesitzer, die die Gegend prägen und eine neue Erschließung fast unmöglich machen.
Das letzte Kapitel im Buch der alpinen Migration ist jedenfalls noch nicht geschrieben.
Für diesen Teil der Sommerserie verbrachten die SN eine Woche lang in den Hohen Tauern. Geschichten von Bergen, Bergmenschen, Bergträumen und Albträumen.
„Viele wollen Abstand zum städtischen Raum. Sie sind gesättigt.“Ernst Steinicke, Uni Innsbruck