Die Simplizität des Ovals
Sportsgeist trifft Größenwahn. Wo sich das Volk mit sich selbst imponiert: Moderne Stadien faszinieren die Massen.
Der große Augenblick der Sportgeschichte dauerte ganze 9,58 Sekunden. Dann hatte der Jamaikaner Usain Bolt die 100 Meter schneller als je zuvor ein Mensch laufend hinter sich gebracht. Es war der 16. August 2009 im Olympiastadion von Berlin, als Bolt die Fabelzeit hinlegte, die bis heute unerreicht ist. 75.000 enthusiastische Zuschauer jubelten dem pfeilschnellen Sprinter zu.
Die Magie dieses Moments wird wieder gegenwärtig, wenn ab Montag an gleicher Stelle die Leichtathletik-Europameisterschaft steigt. Es hätte kaum einen geeigneteren Ort gegeben, um Geschichte zu schreiben. Vergangenheit und Gegenwart harmonieren in der Architektur des Olympiastadions wie sonst nur selten in einer Sportarena. Bei der Modernisierung wurden nicht wie meist zu solchen Anlässen Bagger und Abrissbirne aufgefahren. Vielmehr blieb der in Beton gegossene Größenwahn erhalten, in dem Adolf Hitler bei den Spielen von 1936 der Welt ein heiles Deutschland vorgaukelte. „Geschichte ist nicht durch Liquidation oder Entstellung zu bewältigen“, erklärt Volkwin Marg vom ausführenden Architekturbüro gmp (von Gerkan, Marg und Partner). Dem „schweren historischen Vermächtnis“wurde mit einem leicht wirkenden, lichtdurchlässigen Dach gleichsam Last genommen.
Das Olympiastadion genießt trotz seiner Rolle als Leichtathletik-Bühne auch Kultstatus bei Fußballfans. „Wir fahren nach Berlin!“singen Fans, wenn ihr Club den Schauplatz des deutschen Pokalfinales erreicht. Fast überall sonst auf der Welt sind die Allzweckstadien am Verschwinden. In den Neu- und Umbauten der letzten 25 Jahre rücken die Tribünen so nah wie möglich an das Spielfeld, um eine dichtere Atmosphäre zu schaffen. Augenscheinlich wird das am Beispiel Deutschlands als Veranstalterland: Waren bei der Fußball-Europameisterschaft 1988 noch in allen acht Stadien die Spielfelder von einer Leichtathletik-Laufbahn umrahmt, so waren es bei der Weltmeisterschaft 2006 nur noch drei von zwölf.
Sportlich multifunktional, das war einmal. Die Griechen hielten bei den antiken Olympischen Spielen alle Wettkämpfe der Leicht- und Schwerathletik in einem einzigen Stadion ab. Der Circus Maximus in Rom, der bis zu 250.000 Menschen gefasst haben soll, sah Wagenrennen und andere Sportwettkämpfe ebenso wie die grausamen Gemetzel der Gladiatoren. Im Kolosseum veranstalteten die Römer sogar Seeschlachten auf einem künstlichen See.
In der Neuzeit blieb das Prinzip ähnlich. Das Stadion für die Olympischen Spiele von London 1908 verfügte über Radrennbahn, Leichtathletikanlagen, ein Spielfeld für Ballsport sowie ein Schwimmbecken mit Sprungturm. Auch Bogenschießen, Tauziehen und Fechten wurden in diesem RiesenOval ausgetragen.
Das Interesse an Stadionarchitektur neu geweckt hatten Italien-Reisende wie Johann Wolfgang von Goethe. Der Dichter zeigte sich in der Arena von Verona hingerissen von der „Simplizität des Oval“, in der sich die Menschenmassen „zu einem edlen Körper vereinigt, zu einer Einheit bestimmt, zu einer Masse verbunden und befestigt“finden könnten: „Denn eigentlich ist so ein Amphitheater recht gemacht, dem Volk mit sich selbst zu imponieren.“1895 sah Gustave Le Bon in seinem Text „Psychologie der Massen“praktisch die Fan-Choreografien, Gesänge und Sprechchöre vorher, die heute in jedem Fußballstadion dazugehören: „In den Massen verlieren die Dummen, Ungebildeten und Neidischen das Gefühl ihrer Nichtigkeit und Ohnmacht. An seine Stelle tritt das Bewusstsein einer rohen, zwar vergänglichen, aber ungeheuren Kraft.“
Diese Kraft mag zwar im Stadion des 21. Jahrhunderts durch Versitzplatzung und sorgfältige Trennung zwischen betuchtem Skyboxen-Publikum und Normalkundschaft nachgelassen haben. Der Reiz des Stadionerlebnisses ist ungebrochen. Dabei helfen maximale Funktionalität im Inneren und unverwechselbare Gestalt im Äußeren.
Die Betonschüssel, die abseits der Sportveranstaltungen vor sich hin döst, gibt es kaum mehr. Unter den Tribünen wird Zusatznutzen vom Einkaufszentrum bis zur Seniorenresidenz (St.-Jakob-Park in Basel) geboten. In Stockholm, Gelsenkirchen, Frankfurt, Cardiff oder Amsterdam kann das Dach geschlossen werden, um Konzerte auch bei Schlechtwetter genießen zu können. Viele Arenen bieten Kinderspielparadiese, in denen sich der Nachwuchs vergnügt, während Papa (und immer öfter auch Mama) den Sportlern zuschauen.
Stadien stehen längst neben Kirchen und Museen in den Reiseführern. „Fußballarenen sind die Pilgerstätten von heute“, sagt Jacques Herzog, der mit Architekten-Kompagnon Pierre de Meuron selbst einige dieser unverwechselbaren neuen Kathedralen geschaffen hat: Die farbig leuchtende Hülle der Allianz Arena in München oder das gigantische Stahlstreben-Gewirr des „Vogelnests“in Peking entstanden auf dem Reißbrett des Schweizer Duos.
Die Arbeit wird den Stadion-Visionären nicht ausgehen. Scheichs, Oligarchen und Autokraten gieren nach Denkmälern. Das König-Fahd-Stadion in Riad wirkt durch sein spektakuläres Dach wie eine Ansammlung riesiger Zelte. Die zwölf WM-Stadien von Russland 2018 erinnern wahlweise an Kolosseen, Riesenschlauchboote oder gigantische Muscheln. Die Arena von Krasnodar schaffte es nicht in die Auswahl, trotz Heizstrahlern unter dem Dach und einer rund um den ganzen Zuschauerraum laufenden LED-Leinwand.
Das nächste große Turnier, die EURO 2020, steigt unter anderem in Baku (Aserbaidschan) und Budapest, wo sich die jeweiligen politischen Führer großzügige Arenen leisteten. In Österreich dürfen die Fans davon nur träumen. Dabei hat das Wiener Ernst-Happel-Stadion wie Berlin eine blaue Laufbahn (die aber nie genützt wird) und ein aufgesetztes Dach (das unter Denkmalschutz steht, was einen Um- oder Neubau erschwert). Nur eine Pilgerstätte, das ist das Ernst-Happel-Stadion nicht. Das Fazit der „Zeit“: Bei der Sportstätte im Prater handelt es sich um ein „Endstadion“.
Fußballarenen sind die Pilgerstätten von heute. Jacques Herzog, Architekt