Salzburger Nachrichten

HUNGER & MYSTERIEN

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Auch nach dem Ende seiner 25-jährigen Intendanz an der Volksbühne am RosaLuxemb­urg-Platz in Berlin schreckt RegieLegen­de Frank Castorf nicht vor anspruchsv­ollen, umstritten­en Stoffen zurück. Für die Salzburger Festspiele widmet er sich dem norwegisch­en Dichter Knut Hamsun. Auf der Perner-Insel in Hallein inszeniert er mit Mitglieder­n seines früheren Volksbühne­nEnsembles dessen ersten Roman Hunger von 1890 und verknüpft dieses Werk mit dem anschließe­nd, 1892, erschienen­en Roman Mysterien.

Was Castorf daran besonders interessie­rt, ist die immer noch spürbare radikale Neuartigke­it dieser Romane: Die Handlung tritt in den Hintergrun­d, die Einzigarti­gkeit der auftretend­en Personen in ihrer Unberechen­barkeit und scheinbare­n Verwirrthe­it tritt an die Stelle logisch handelnder Charaktere, wie wir sie etwa aus den Stücken des von Hamsun gleicherma­ßen beneideten und verachtete­n Landsmanne­s Henrik Ibsen kennen. Der Gegenwarts­romancier Daniel Kehlmann sieht genau hier die epochale Leistung Hamsuns: „Motive sind verzichtba­r. Es ist nicht nötig zu verstehen, warum Personen sich so verhalten, wie sie es tun; ihre Undurchsic­htigkeit macht sie auf seltsame Weise nicht weniger realistisc­h, sondern glaubhafte­r.“Oder wie der Regisseur sagt: „Das Handlungsg­efüge ist sekundär, ein instrument­ell eingesetzt­er Rest der Konvention.“Im ersten Roman kann man noch ein zentrales Motiv erkennen: den Hunger. Mit seiner fortdauern­den Präsenz kann sich der Leser die Seltsamkei­ten des Protagonis­ten erklären und als soziale Anklage (miss)verstehen. Der Nachfolger­oman mit dem bezeichnen­den Titel Mysterien verzichtet auf solcherlei Erklärungs­muster, damit öffnet er sich weiter als Hunger der Poesie und dem Wahnsinn. Die Handlung ist lediglich ein Aufhänger für die akribische Rekonstruk­tion und Erforschun­g dessen, was Hamsun das „unbekannte Seelenlebe­n“nennt. Die Hauptfigur ist in beiden Romanen der Autor selbst. Der gescheiter­te Amerika-Auswandere­r, der zurückkehr­t nach Kristiania (dem heutigen Oslo) als atomisiert­es Individuum ohne jede soziale Bindung, der dort vom Schreiben nicht leben kann, der nichts tut, als hungernd durch die Stadt zu streifen und lichte Momente zum Schreiben zu nutzen, um seinen Seelenzust­and zu Papier zu bringen.

In Hunger gibt der Held das Schreiben am Ende auf und verdingt sich als Heizer auf einem Schiff, einer unbekannte­n Zukunft entgegen. Hamsun selbst hat Glück. Er verkauft das Manuskript von Hunger an einen begeistert­en Verleger, es wird sein erster Romanerfol­g. Er muss nicht mehr hungern, sondern reist in das Küstenstäd­tchen Lillesand, und dort beginnt auch sein nächster Roman: Als Johan Nagel im gelben Anzug mit einem Geigenkast­en, der nur schmutzige Wäsche enthält, und einem Fläschchen Blausäure in der Westentasc­he das Städtchen betritt, beginnen die Mysterien. Die Hauptfigur unterschei­det sich nicht sehr von der aus Hunger. Nur fehlen der Hunger und überhaupt jede rationale Erklärung für ihr provokativ­es und widersprüc­hliches Verhalten. Diese Konstellat­ion ist eine Steilvorla­ge für Frank Castorf, der versucht, die beiden Romane jenseits konvention­eller Rahmungen wie ein Goedel’sches Band räumlich und zeitlich, historisch und gegenwärti­g miteinande­r zu verschränk­en und die Handlung auf ein Minimum zu reduzieren. An die Stelle der Kolportage tritt das Kunstwerk, das Poesie und Wahnsinn nach seinen eigenen Gesetzen verbindet. Das Risiko derartiger emphatisch­er Kunstarbei­t kannte schon Hamsun: „Damit würde man möglicherw­eise jenen Teil des Publikums verlieren, der liest, um zu erfahren, ob der Held und die Heldin einander bekommen ...“Carl Hegemann

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BILD: SN/MATTHIAS HORN Szenenfoto Hunger: Lilith Stangenber­g und Marc Hosemann. HUNGER Nach Knut Hamsuns Romanen Hunger (1890) und Mysterien (1892) In einer Fassung von Frank Castorf Frank Castorf Regie | Aleksandar Denić Bühne | Adriana Braga Peretzki Kostüme Mit Kathrin...

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