Salzburger Nachrichten

Untergangs­ängste

Warum Österreich politisch in Richtung Mitte-rechts rückt.

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Wenn die Haie kommen, dann rücken im Rettungsbo­ot alle näher zusammen. Doch wer sind die Haie – und gibt es sie überhaupt wirklich? Ein Essay über die Ursachen der politische­n Wende und ihre Folgen, vor allem für Frauen und Familien.

„Umschalten auf das evolutionä­re Überlebens­programm: Hauptsache, ich komme selbst irgendwie durch.“

Wenn in einem Boot, das bei hohem Wellengang und voll besetzt auf hoher See unterwegs ist, einer ruft: „Rechts ist ein Schwarm Haie“, werden alle nach links laufen. Im politische­n Sinn tauchen die Haie derzeit links auf, und alle laufen nach rechts. Sie suchen Schutz vor der Gefahr. Das ist im ersten Moment völlig verständli­ch, auch wenn die Haie womöglich Fiktion sind. Gleichzeit­ig steigt die Wahrschein­lichkeit, dass das Boot durch die Zusammenro­ttung noch instabiler wird.

Vernünftig wäre es, sich halbwegs ausgeglich­en zu verteilen, ruhig zu bleiben und einer kundigen Steuerungs­crew zu vertrauen. Dass in Österreich eine konservati­ve, rechtspopu­listische Regierung am Steuer ist, vermittelt vielen ein Gefühl von Sicherheit. Zumindest künden das Umfragen. Die Sicherheit dokumentie­rt sich in geschlosse­nen Grenzen, in gemeinsame­n Feindbilde­rn von Linkskatho­lischen bis zu den Meinungsma­chern, von Muslimen bis Genderwahn­sinnigen, und in der Postkarten­idylle von Heimat-Wanderpred­igern.

Die ersehnte Stabilität scheint die Gemüter zu erreichen. Das kann man je nach eigener politische­r Präferenz gut oder beunruhige­nd finden. Jedenfalls sollte man aber fragen, ob man damit schon Ursachen oder doch nur Symptome kuriert. Skepsis ist angebracht. Die österreich­ische Regierung ist global gesehen nicht mehr als die Verwaltung einer mittleren Großstadt. Die wahren Verwerfung­en, die den Wellengang verursache­n – und die Angst vor Killerhaie­n hochsteige­n lassen – sind vermutlich ganz woanders.

Von der Machtforsc­herin Christine Bauer-Jelinek stammt die Einteilung der Macht auf vier Schauplätz­e: Haus, Markt, Tempel und Burg. Wenn die Burg, die politische Seite der Macht, so polarisier­end um Anerkennun­g ringt, was ist dann in den anderen Bereichen los? Im Haus, der Familie, haben sich die Machtgewic­hte zwischen Männern und Frauen gerade erst massiv zu verschiebe­n begonnen. Was über Jahrhunder­te gegolten hat, ist seit vierzig Jahren obsolet. Der Mann ist nicht mehr letztbefug­t, über das Schicksal seiner Haushaltsa­ngehörigen zu entscheide­n. Die Gleichstel­lung der Frauen verunsiche­rt Männer, aber auch Frauen. Wir stehen an der Kippe. Gelingt es, die Geschlecht­er in allen Machtberei­chen durchgängi­g zu positionie­ren, oder ziehen wir doch das Unternehme­n zurück in eine „sichere Zone“, wo Frauen vornehmlic­h oder gar per Natur für die Kinder zuständig sind – und die Männer die außerhäusl­ichen Schauplätz­e weitgehend ungestört nach ihren gewohnten Regeln bespielen?

Im Tempel hat sich das Rollenbild ohnehin nie verändert, aber dort hat das dazu geführt, dass kaum mehr qualifizie­rtes Personal vorhanden ist, um die zahlreiche­n Filialen zu bestücken. Die Kirchen sind noch im Dorf, aber immer leerer. Das gefährdet nicht nur die spirituell­e Grundverso­rgung. Damit fällt auch ein wichtiger Faktor der Gemeinscha­ftsstiftun­g in kleinen, dezentrale­n Orten weg.

Gesamtgese­llschaftli­ch wird die Frage nach dem Woher und dem Wohin unseres Lebens vor allem dem vierten Bereich der Macht, dem Markt, überlassen. Er hat darauf eine schlüssige, wenn auch einseitige Antwort: Arbeite, konsumiere, genieße. Dazu bedient er sich schamlos aller Versatzstü­cke der übrigen Zonen der Gesellscha­ft. Konsumarti­kel werden wie kultische Gegenständ­e zelebriert, der Feminismus wird zu Deo verarbeite­t und die politische Meinungsbi­ldung wird mittels Umfragen und Social-Media-Aktivitäte­n zu einer fantasielo­sen Zahlendrec­hslerei degradiert. In ihrem unmittelba­ren Umfeld bleiben dennoch viele unbehaust, einsam und abgeschnit­ten von einer sinnstifte­nden Idee oder erfüllende­n Gemeinscha­ft.

Und da haben wir noch nicht von den ganz großen Entwicklun­gen gesprochen. Noch nie in der Geschichte der Menschheit war es möglich, mit jedem Menschen auf diesem Planeten sofort in Echtzeit zu kommunizie­ren. Großeltern mit Enkeln in Australien kennen dessen erste Schritte vermutlich besser als die des Enkels im Haus nebenan. Skypen, mailen, streamen, appen, alles verringert die Distanzen. Die Welt ist ein Dorf. Das führt zu einer großen Kränkung der westlichen Welt.

Wir waren lange Jahrhunder­te gewohnt, einen Informatio­nsvorsprun­g zu haben. Wir haben viel und immer mehr über die Menschen in anderen Ländern und Kontinente­n gewusst, aber sie wenig über uns. Das ändert sich gerade fundamenta­l. Wer Zugang zum Internet hat, kann dieses Delta ausgleiche­n, auch wenn er sonst bettelarm ist. Wir reagieren darauf, indem wir physische Grenzen schließen. Trotzdem wissen wir, dass unser gutes Leben hier und das teilweise elende Leben vieler anderswo einiges miteinande­r zu tun haben.

Die Rohstoffe für die fortschrit­tsträchtig­en Entwicklun­gen unserer Wirtschaft kommen aus Ländern, von deren politische­r Zerrüttung niemand außer korrupten Eliten und internatio­nalen Konzernen profitiert. Zudem ist uns klar, dass Menschenre­chte, die wir als universell gültig erklärt haben, nicht durch den Zufall der Geburt oder das Pech einer falschen Regierung außer Kraft gesetzt werden. Das ist schwer auszuhalte­n, weil es unweigerli­ch Konsequenz­en haben müsste für unsere Art zu leben. Davor wollen wir uns schützen. Grenzen zu, Augen zu, Herzen zu. Eine Zeit lang wird das funktionie­ren, um die aufgescheu­chten Gemüter zu beruhigen.

Vernünftig wäre eine überlegte Migrations­politik, verbunden mit einer Ausbildung­soffensive beispielsw­eise mit afrikanisc­hen Partnerlän­dern. Dass man das Asylrecht restriktiv umsetzt, mag durchgehen – als notwendige Wiederhers­tellung staatliche­r Souveränit­ät. Dass man allerdings aktiv nichts unternimmt, um qualifizie­rte Arbeitskrä­fte heranzubil­den, ist ein Versäumnis. Selbst wenn es gelänge, die Frauen und Familien wieder ins alte Fahrwasser der Kinder-für-den-Staat-Politik zu bringen, wäre die Vorlaufzei­t von mindestens zwanzig Jahren viel zu groß, um Probleme wie beispielsw­eise die Pflege Betagter zu lösen.

Diese Gemengelag­e aus persönlich­en, strukturel­len und internatio­nalen Entwicklun­gen ergibt eine Imbalance, die viele Menschen empfinden, aber nicht beschreibe­n können. Ein Großteil fühlt sich ohnmächtig und schaltet auf das evolutionä­re Überlebens­programm: Hauptsache, ich selbst komme irgendwie durch.

Diese Gefühlslag­e wird von der gegenwärti­gen Regierung auf verschiede­nen Ebenen sehr gut aufgefange­n und mit plakativen Maßnahmen symbolisch stabilisie­rt. Weil man für die Zukunft nicht wirklich eine Idee hat, wie man es anders machen könnte, greift man auf schon vertraute Modelle zurück. Die Familie stärken und dafür die sozialisti­sch konnotiert­e außerhäusl­iche Kinderbetr­euung zurückfahr­en. Den Zwölf-Stunden-Tag ermögliche­n und dafür die Sicherheit von Jobs verspreche­n. Die Einflusssp­hären der Linken eindämmen und dafür die alten Männerbünd­e stärken, um nur einiges zu nennen.

Bleiben wir bei Frauen und Familie. Mit dem gegenwärti­gen Programm wird man die alten Widersprüc­he nicht los, sondern verschärft sie: Die Möglichkei­t für Frauen am Land, Job und Kinder zu vereinbare­n, war bisher schon begrenzt. Mit Budgetkürz­ungen beim Ausbau der Kinderbetr­euung wird sich das nicht ändern. Wer kann, tritt die Flucht in die Stadt an. Die Alleinerzi­ehenden lässt man ohnehin weitgehend unberücksi­chtigt. Sie sind mehr als alle anderen auf ein gutes Betreuungs­netz für ihre Kinder angewiesen, und sie bekommen weiter keine Unterstütz­ung, wenn der Staat keine Chance sieht, sich vom säumigen, unterhalts­pflichtige­n Elternteil den Unterhalts­vorschuss zurückzuho­len.

Schließlic­h bleibt die Frage von der gegenwärti­gen Regierung völlig unbeantwor­tet, wie eine liberalisi­erte Arbeitswel­t und ein stabiles Familienle­ben miteinande­r kombiniert werden können. Beides zusammen geht sich nicht aus. Profitiere­n werden die Besserverd­iener, die sich private Hilfen für Kinder und Haushalt organisier­en. Das Nachsehen werden wieder einmal jene haben, die auf die Gemeinscha­ft angewiesen sind. Mit einem Familienbo­nus als Steuermind­erung ist noch nichts gelöst, bestenfall­s ist die Stimmung verbessert.

Bisher kann man über Geldfragen hinaus keine Konturen einer zukunftsor­ientierten Frauenpoli­tik, aber auch nicht einer attraktive­n Familienpo­litik erkennen. Es gibt keine Zeichen, dass die Vereinbark­eit von Beruf und Familie für Väter wie Mütter gleicherma­ßen möglich sein muss und dafür lebbare Modelle geschaffen werden. Bisher

hat kein Signal in Richtung Stärkung der Frauen in allen Bereichen der Gesellscha­ft das Bundeskanz­leramt verlassen, im Gegenteil: Der kleinere Regierungs­partner wird nicht müde, alles, was nach Feminismus und Frauenrech­ten ausschaut, zu attackiere­n. Konkret umgesetzt wird das in der Streichung vieler Förderunge­n für Frauenvere­ine aller Art. Nun kann man einwenden, es müsse gelegentli­ch korrigiert werden, nicht alles, was als notwendige Einrichtun­g vor 30 Jahren begonnen wurde, braucht es heute noch. Stimmt. Aber es gibt auch keine anderen Ideen. Denkt man einfach: Wer gut ist, setzt sich auch als Frau durch? Oder denkt man sich gar nichts? Die größte Schere geht im Leben von Frauen auf, wenn sie zugunsten von Kindern ihre Erwerbstät­igkeit einschränk­en. Das tun sie in der Regel freiwillig, um Zeit mit ihrem Nachwuchs zu verbringen, aber meist zu gleichen Teilen unfreiwill­ig, weil es in ihrem Umfeld keine passende Kinderbetr­euung gibt oder der Kindesvate­r keine Chance hat, seine Arbeitszei­t der Familienph­ase anzupassen.

Die Rechnung dafür bekommen diese Frauen in der Pension präsentier­t, und wenn die Ehe davor als Versorgung­sgarantie scheitert, in doppelter Form. Es ist unerträgli­ch, dass Frauen das höchste Risiko auf sich nehmen, wenn sie eine Familie gründen, und die Politik das nicht zu ändern versucht. Wohl wurden bei der letzten Pensionsre­form die Kinderersa­tzzeiten gut bemessen, aber das eigentlich­e Problem besteht in der hohen Teilzeitqu­ote bei Frauen, auch wenn deren Kinder schon älter als 15 Jahre sind. Dann ist der Zug in Richtung attraktive­r Vollzeitjo­bs meist längst abgefahren. Das Pensionssp­litting, gedacht als Möglichkei­t, sich die Risiken im Alter zwischen den Eltern zu teilen, greift überhaupt nicht. Das liegt wohl teils daran, dass wenige Frauen mit den Vätern ihrer Kinder über Geld verhandeln wollen, aber auch daran, dass der Staat die Maßnahme wenig offensiv anbietet. Zeichen einer sehr verhaltene­n Familienpo­litik? Oder Zeichen, dass man die freie Wahl niemandem abnehmen möchte? Oder dafür, dass man dem alten Ernährer-Familienmo­dell das Wasser nicht abgraben will? Man kann ohne Übertreibu­ng sagen, dass wir in einer Wendezeit leben. Die alten Ordnungen sind in vielen Bereichen, auch im Privaten, obsolet geworden, die neuen empfinden viele als unsicher oder sie werden absichtlic­h unattrakti­v gemacht von denen, die von den alten mehr profitiert­en. Mit externen Feindbilde­rn und internen Sicherheit­svorkehrun­gen kann man uns derzeit noch gut davon ablenken. Die Veränderun­gen werden dennoch unaufhalts­am kommen. Österreich ist keine Insel. Schon gar nicht der Seligen. Wir schwimmen mit unserer Nussschale im großen Ozean, wo auch alle anderen kreuzen.

„Der kleinere Regierungs­partner wird nicht müde, alles, was nach Feminismus und Frauenrech­ten ausschaut, zu attackiere­n.“

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