Traurig sein hat auch sein Gutes
Emotionen gelten meist als positiv oder negativ. Aber hält diese Einteilung bei genauerem Hinsehen stand? Ein Einspruch am Beispiel der Traurigkeit.
Ein von großer Niedergeschlagenheit, Traurigkeit oder Depressivität gekennzeichneter Gemütszustand – so definiert der Duden die Melancholie. Anfang des 19. Jahrhunderts galt der Melancholiker als ein von Schwermut geplagter Mensch – eine jämmerliche, fast unheimliche Gestalt. Der französische Arzt Jean Étienne Dominique Esquirol sprach von einem mageren Körper und einer bleichen Gesichtsfarbe. Die Kirche sah die Melancholie sogar als Versuch des Teufels, den Menschen durch endlose Debatten mit sich selbst in den Wahnsinn zu treiben. Der bedeutende Kirchenlehrer Thomas von Aquin (1225–1274) zählte die „Trägheit des Herzens“unter die Todsünden: „Der Mensch, mit Melancholie befallen, ihm ist im Ganzen die Freude an Gott abhandengekommen.“
So weit, so schlecht. Und unrichtig, wie der Salzburger Religionspädagoge Anton Bucher meint. „Denn alle Emotionen sind positiv, auch die negativen.“Mit dieser These will Bucher die Aufspaltung der Emotionen in „negative“und „positive“aushebeln. Lang ist die Liste der Emotionen an diesen beiden Polen. Zu den häufigsten negativen Emotionen werden Scham, Schuld, Apathie, Trauer, Angst, Begierde, Ärger und Stolz gezählt. Auf der anderen Seite nennt das Handbuch positiver Emotionen Glück, Stolz, romantische Liebe, Mitgefühl, Dankbarkeit, Erhebung, Inspiration und Hoffnung. Mit der Positiven Psychologie zielt seit der Mitte des 20. Jahrhunderts eine ganze Fachrichtung darauf, positive Emotionen, Lebenszufriedenheit und Leistungsfähigkeit zu fördern.
Diese Wertung von Emotionen reicht bis in die Antike zurück – und fällt je nach Epoche sehr unterschiedlich bis gegensätzlich aus. Bucher weist u. a. auf den griechischen Philosophen Aristoteles hin, der den Stolz, sofern er keine Prahlerei sei, als die „Krone der Tugend“bezeichnet habe. Sieben Jahrhunderte später habe dagegen der Kirchenlehrer Augustinus den Stolz als ärgste Todsünde gescholten, weil ein Mensch, der sich zum Hochmut versteige, zu allen anderen Lastern neige. Auch kulturell zeige sich, wie fragwürdig die Unterteilung der Emotionen in positive und negative sei, meint Bucher. In den USA werde der Stolz nach einem Triumph offen zur Schau gestellt, in Japan dagegen tunlichst vermieden. „Inwiefern also sollen die einen Emotionen positiv sein und die anderen negativ?“, fragt Bucher und plädiert dafür, den Blick nicht auf eine solche Wertigkeit von Emotionen zu richten, sondern auf ihre Funktion. „Funktionalistisch betrachtet ist jede Emotion positiv, auch die schmerzhafteste.“
Der Religionspädagoge erläutert dies an Beispielen wie Angst, Zorn und Ärger, die meist als negativ charakterisiert würden und tatsächlich unangenehm sein könnten. „Angst war, ist und bleibt aber überlebenswichtig und erfüllt die Funktion, sich einer Gefahr bewusst zu werden, um ihr auszuweichen, sie zu fliehen oder zu bekämpfen.“Zorn und Ärger wieder aktivierten Energie, um Hindernisse aus dem Weg zu räumen und Ziele zu erreichen. Selbst der Neid, „die einzige Todsünde, die tatsächlich keinen Spaß bereiten kann“, sei funktional betrachtet, in ihrer Wirkung, manchmal positiv: „Der Neid kann dazu motivieren, sich selbst zu erarbeiten, worum man andere beneidet.“In der Zivilisationsgeschichte sei Neid eine der stärksten Triebkräfte der Wirtschaftsentwicklung.
In diesem Spannungsfeld sieht Bucher auch „glücklich sein“und „traurig sein“. In der gegenwärtigen Glücksgesellschaft sei die Intoleranz gegenüber negativen Emotionen stark gewachsen. Der Ratschlag, Glück steige in dem Maße, wie negative Emotionen, speziell Traurigkeit, eliminiert würden, führe aber in die Irre. Negative Emotionen würden nicht schwächer, sondern tendenziell sogar stärker, wenn man versuche, sie zu unterdrücken. Dies mindere nicht nur die kognitive Leistung, sondern auch die Lebenszufriedenheit und den Selbstwert.
Bucher ist daher überzeugt: „Eher ist der Fall, dass glücklicher wird, wer Traurigkeit zulässt und nicht unterdrückt.“Menschen in trauriger Stimmung würden in vielen Situationen besser abschneiden als jene in heiterer Stimmung: kognitiv, indem sie sich zumeist präziser erinnern, genauer analysieren und Zukünftiges realistischer prognostizieren; sozial, indem sie Stereotype besser durchschauen und überzeugungskräftiger verhandeln; motivational, indem sie eine Aufgabe beharrlicher angehen und wahrscheinlicher bis zum Schluss durchziehen; moralisch, indem sie meist gerechter urteilen und handeln.
Eine Reihe faszinierender Studien bestätigt das. Wenn man sich zum Beispiel ein Haus oder eine Wohnung kaufen will, ist es demnach besser, man ist eher ein wenig melancholisch oder schlecht gelaunt, weil man dann die Dinge genauer prüft. Der Geist stellt sich offenbar schärfer auf die jeweilige Aufgabe ein, wenn er nicht ganz so gut drauf ist. Buchers Plädoyer für die Melancholie geht aber weiter: „Der zur Melancholie fähige Mensch anerkennt seine grundsätzliche Begrenztheit. Er beansprucht nicht, vieles, wenn nicht alles ändern zu können, ja gar eine neue Welt zu erschaffen kraft der Macht von Gedanken, wie es viele Prediger der Glücksoptimierung und des positiven Denkens suggerieren.“Allmachtsfantasien seien dem melancholischen Menschen fremd, vielmehr werde er versuchen, Demut zu leben, auch wenn dieser Begriff vorbelastet sei als entwürdigende Untertänigkeit. „Aber wirkliche Demut (engl. humility) befähigt den Menschen, sich selbst realistisch zu sehen, Kritik anzunehmen, seine Grenzen und Schwächen zuzugeben und anderen zu dienen. Und sie bewahrt davor, sich narzisstisch aufzublähen und arrogant auf andere hinunterzublicken.“
Bucher illustriert das Glück der Melancholie mit einem 50-jährigen Touristen am Meeresstrand. Dieser beobachtet Burschen mit breiten gebräunten Schultern und junge Frauen in knappen Bikinis beim Beachvolleyball. Der Mann erfreut sich an der überschäumenden Lebenslust, gerät aber zunehmend ins Nachdenken: Vor nicht langer Zeit waren seine Muskeln auch so voller Spannkraft; und wahrscheinlich wird er vor diesen jungen Menschen sterben. Einige Atemzüge lang erfüllt ihn Neid, bis dieser einer tiefen Wehmut weicht. Auch diese Menschen werden altern, ihre Zähne werden ausfallen und sie werden ihren letzten Atemzug tun. Das stimmt den Mann traurig – und dankbar zugleich, „weil er alles, was er sieht, hört und riecht, unendlich wertzuschätzen beginnt – jeden Sprung, jeden Freudenschrei, jeden Schluck Prosecco, jeden Atemzug, weil keiner davon, weil nichts selbstverständlich ist“.
Man mag das vielleicht nicht als Glück deuten, meint Bucher. Zumindest kein spaßiges und oberflächliches. Es lasse sich aber als Melancholie deuten: als traurig und zugleich erfüllt von einem tiefen dankbaren Glück – als Inbegriff einer gemischten und gerade deswegen intensiven Emotion.