Gefangen im Ich
Frank Castorf widmet sich dem Autor Knut Hamsun in all seiner Widersprüchlichkeit. Der Theatermarathon hinterlässt Spuren.
HALLEIN. Ein Abnutzungskampf brennt sich zunächst im Akteur ein. Er hinterlässt aber auch beim Schaulustigen Spuren. Dort, wo der Geist an seine Grenzen getrieben wird, lauert das Ereignishafte. Der Box-„Thrilla in Manila“zwischen Muhammad Ali und Joe Frazier 1975. Der sechsstündige Tenniskampf von Novak Djokovic gegen Rafael Nadal bei den Australian Open 2012. Oder die zwölfstündigen Shakespeare-„Schlachten“von Luk Perceval 1999.
Letztere Disziplin, der Theatermarathon bei den Salzburger Festspielen, ist seit Samstagabend um ein Kapitel reicher. Knapp sechs Stunden lang lässt sich Regie-Großmeister Frank Castorf Zeit, um tief in die Geisteswelt eines Autors einzutauchen, der sich selbst einen „lebenden Widerspruch“nannte. Knut Hamsun (1859–1952), visionärer Autor, der mit seinen Romanen „Hunger“und „Mysterien“kühn den Weg in die literarische Moderne ebnete. Aber auch Knut Hamsun, Anhänger brauner Ideologie, der für ein Norwegen unter nationalsozialistischer Führung eintrat.
Castorf zeigt beide Seiten. Seine Theaterfassung der beiden Romane lässt keinen Zweifel an der literarischen Meisterschaft Hamsuns offen. Auf der Halleiner Pernerinsel sieht man jedoch auch den anderen Hamsun, der sich auf SchwarzWeiß-Filmaufnahmen im Kreise von NS-Größen präsentiert. „Es ist so vieles und von so vielen über unsere Zukunft geschrieben worden“, wird Hamsun zitiert. „Aber von allen allein hat Hitler zu meinem Herzen gesprochen.“
Keine zehn Sekunden dauert es, und das erste Hakenkreuz ist auf der Bühne zu erspähen. „Swastika! Swastika!“, schreit Marc Hosemann. Er verkörpert – soweit man das bei Castorf einem einzigen Schauspieler zuschreiben kann – den jungen Dichter und Journalisten, der im Jahr 1890 durch Norwegens Hauptstadt Kristiania irrlichtert. In seinem Roman „Hunger“schickt Knut Hamsun diesen Grenzgänger – heute würde man wohl Borderliner dazu sagen – auf die winterliche Reise durch Norwegens Hauptstadt. Er hat nichts zu essen, aber er hat Talent. Seine Gedankenwelt lässt Hamsun als soghaften Bewusstseinsstrom auf den Leser los. „Der Hunger betäubt mich“, sagt er. Und: „Der Hunger berauscht mich.“Hosemann spielt diesen Widerständigen mit Haut und Haaren.
Der Hunger betäubt und berauscht
Jede Absage aus den Redaktionsstuben macht ihn mutloser. Dann wieder will er das Beste zu Papier gebracht haben, was er je gelesen hat. Er tanzt vor nationalistischen Plakaten. Und je länger man ihn reden hört, umso klarer wird: Da steckt viel Hamsun in dieser Figur. Castorf versucht sich erst gar nicht an Erklärungen. Nach einer Stunde verlässt der Regisseur diesen trostlosen Schauplatz auch schon wieder.
Eine Gesellschaft in gelben Anzügen erscheint. Es sind die Bewohner einer kleinen Hafenstadt. Sie lassen sich in einem McDonald’s nieder, den Bühnenbildner Aleksandar Denić wunderbar originalgetreu in eine seiner gewohnt vielgestaltigen Drehkonstruktionen integriert hat. Der Schnellimbiss mit dem goldenen M ist ein globales Symbol des Kapitalismus. Castorf vermeint Kritik daran aus Hamsuns „Mysterien“herauszulesen. Hamsun hat sich nach dem Erfolg von „Hunger“in einem Küstenstädtchen niedergelassen und verarbeitete seine Eindrücke in seinem 1892 erschienenen Folgeroman.
Wieder ist es ein Einzelgänger, der in eine fremde Gesellschaft hineingeworfen wird. Nagel heißt er, ist offenbar wohlhabender Agronom und verwirrt die Bewohner mit eigenwilligen Aktionen: Er rettet den verkrüppelten Außenseiter Minute vor öffentlicher Demütigung und kleidet ihn neu ein. Einer Frau aus bescheidenen Verhältnissen will er einen Stuhl zu völlig überteuertem Preis abkaufen. Und der verlobten Dorfschönheit Dagny macht er unverhohlen den Hof.
Castorf besetzt diesen Nagel jedoch nicht mit einem einzigen Schauspieler, er lässt die Rolle durch sein früheres Berliner-Volksbühne-Ensemble wandern. Kostümbildnerin Adriana Braga Peretzki hat die Darsteller allesamt in gelbes Tuch gehüllt. Als Kollektiv lassen sie – in bester postdramatischer Manier – keine eindeutige Sicht auf diesen Eigenbrötler zu, vervielfachen jedoch die Perspektiven auf diese widersprüchliche Persönlichkeit. Einige etwas mehr, wie Lars Rudolph als kauziger Nagel oder die große Sophie Rois als beklemmend devoter Minute.
Castorf lässt Szenen aus beiden Romanen mit Fortdauer des Abends immer stärker ineinander verschmelzen, bleibt aber werktreu. Abwechslung bereiten die Live-Filme aus dem Inneren der Bühnenlandschaft. Im zweiten Teil des Abends setzt der Regisseur vorrangig auf den Blick durch die Kamera. Wenn sich Hosemann vor Hunger und Wahnsinn fast den Finger abbeißt, wenn er sich einer freigiebigen Dirne verweigert, ist der Zuseher per Leinwand ganz nahe dabei.
Der politische Aspekt dieser Hamsun-Durchleuchtung beschränkt sich zunächst auf Symbole, etwa ein hölzernes Wikingerschiff mit der Aufschrift „Germanske Norge“und dem SS-Symbol in der Mitte, die Hausnummer 88 – ein geläufiger Code für „Heil Hitler“– oder ein heutiges Kenzo-Plakat mit verstecktem Hakenkreuz. Später versenken sich Sophie Rois und Kathrin Angerer in eine hymnische Hitler-Eloge aus Hamsuns Feder. Josef Ostendorf singt dazu „Leise flehen meine Lieder“mit Führer-Maske. Ein großer, schauriger Moment.
Doch der Spaß kommt nicht zu kurz. Ostendorf und der junge Rocco Mylord etwa rezitieren einen zentralen Dialog aus „Mysterien“im Würstchen- und Pommes-Ganzkörperanzug. Dabei handelt es sich um die Frage, wer denn nun bedeutender sei: Jesus, Tolstoi oder Kant. Die Ernsthaftigkeit des Dialogs sorgt in Kombination mit der lächerlichen Aufmachung für großes Gelächter. Auch wenn „Herr Karl“oder der „Wirtschaftswunder“-Gassenhauer zitiert werden, wenn Rois und Angerer plötzlich norwegisch parlieren: All das lockert den Abend auf.
Die Längen halten sich ohnehin in Grenzen. Frank Castorf gelingt eine
Verzerrte Gitarren statt feiner Nuancen
sehr fokussierte, zielgerichtete Arbeit. Vor allem aber durchfährt die Rückkehr des deutschen Regietitanen mit seinem fulminantem Ensemble nach 14 Jahren FestspielAbwesenheit den Körper wie ein Energieschub. Der formstrengen, reduzierten „Penthesilea“im Landestheater wird nun ein dröhnender, überwältigender Gewaltakt gegenübergestellt. Verzerrte Gitarren statt Streichquartett. In your face!
Die Darsteller spielen konsequent am Limit. Kaum Nuancen, nur eine Stoßrichtung: Attacke! Zuletzt, nach fünfeinhalb Theaterstunden, wird es dann doch etwas mühsam. Der Abend liegt in den letzten Zügen und Castorf lässt den Gifttod aus „Mysterien“in lähmendem Tempo durchexerzieren. „Die Zeit ist belanglos“, sinniert Sophie Rois. Nicht für Hamsuns Protagonisten: Die bleiben im Ich gefangen. Das verbliebene Publikum spendet erschöpft, aber begeistert Applaus – um halb ein Uhr früh.