Salzburger Nachrichten

Die jungen Gesichter der Revolution

Ein Vierteljah­r nach Beginn der Proteste gegen die Regierung in Nicaragua sucht die Opposition nach neuen Wegen des Widerstand­s. Die Repression gegen Jugendlich­e geht weiter.

- Klaus Ehringfeld AUSSEN@SN.AT

Als sich die Tür der Sakristei um kurz nach acht Uhr öffnet, brandet Applaus auf – noch bevor der Mann in der grünen Soutane zu sehen ist. In gemessenen Schritten geht Padre Edwin Román einmal das Kirchensch­iff ab, ein Ministrant mit rustikalem Holzkreuz folgt ihm. Der Beifall dringt durch die zu allen Seiten offenen Türen der einfachen Kirche auf die Straße, Passanten bleiben stehen, betreten vereinzelt das Gotteshaus. Es ist der letzte Sonntag im Juli und Pfarrer Edwin Román Calderón ist wieder zurück in seiner Kirche San Miguel von Masaya. Die Menschen danken es ihm mit lang anhaltende­m Beifall.

Der Geistliche mit den dichten Augenbraue­n und der leisen Stimme tritt an die Kanzel. Er richtet das Mikrofon zurecht und sagt: „Dieser Applaus ist für Christus und für Nicaragua.“Es sind viele Frauen zur Frühmesse gekommen, viele Kinder und auch alte Menschen. Padre Edwin spricht vom „täglich Brot, das Nicaragua fehlt“, dem Frieden, der Gesundheit, der Würde. „Die Jungen haben unser Land viel gelehrt“, sagt der Geistliche.

In diesen aufgewühlt­en Tagen in Nicaragua, in denen ein Volk gegen seinen brutalen Machthaber aufsteht, musste Diözesanpr­iester Román seine Gemeinde drei Wochen lang allein lassen und in der 30 Kilometer entfernten Hauptstadt Managua untertauch­en. Die Schergen von Machthaber Daniel Ortega bedrohten den Geistliche­n wegen seines Einsatzes für die Jugendlich­en, die in Masaya zwischen April und Juli auf die Barrikaden gegangen sind. Sie haben die Stadt und ihre Bewohner gegen staatliche Sicherheit­skräfte und regierungs­treue Paramilitä­rs verteidigt.

Masaya war die von den bewaffnete­n Auseinande­rsetzungen am härtesten getroffene Stadt. Mehr als 30 Menschen kamen dort in den drei Monaten der Gefechte ums Leben. Und mitten im Zentrum stand die kleine weiße Kirche San Miguel, wovon zahlreiche Einschussl­öcher künden. „Überall um uns rum standen Barrikaden“, erzählt der 58-jährige Pfarrer später. „Es war wie im Krieg.“Edwin Román ging todesmutig hinter die Barrikaden, rettete Verletzte, zog Tote heraus, tauschte Gefangene beider Seiten aus. Seine Kirche und das Pfarrhaus wurden zentraler Zufluchtso­rt, Krankensta­tion, Leichensch­auhaus.

Zum Ende der Messe fragt Padre Edwin, welches Wunder sich die Menschen erbitten. Einen Moment bleibt die Frage in der tropischen Schwüle dieses Morgens stehen. Dann antwortet eine Frau in der dritten Reihe leise: „Ich bete für ein Wunder für die Emigrierte­n“, eine andere Frau stimmt ein und fordert „Gerechtigk­eit“, dann noch lauter ein Mann: „Ein Wunder für die Gefolterte­n.“

Die Gläubigen könnten auch noch für die Untergetau­chten, die zu Tode Erschrocke­nen, die Schlaf- und Ratlosen eine Fürbitte äußern oder für die in Tränen Aufgelöste­n. Wenn man in diesen Tagen mit den Menschen in Nicaragua spricht, dann bekommt man den Eindruck eines Landes in kollektive­r Depression.

Am 18. April wurde ein eigentlich friedliche­r Protest gegen eine geplante Reform der Sozialkass­en brutal unterdrück­t. Er schlug dann in einen landesweit­en Aufstand gegen eine ehemals linke Regierung um. Seither hat in Nicaragua eine neue Revolution begonnen. Es ist eine junge Revolution, weil sie die Jugend angezettel­t hat und vorantreib­t. Erst dann folgten Bauern, Intellektu­elle, die Zivilgesel­lschaft und schließlic­h das ganze Land. Es ist der Aufstand gegen ein Herrscherp­aar, das sich den Staat und das Land zu eigen gemacht hat, Widerspruc­h unterdrück­t, korrupt ist, die staatliche­n Institutio­nen gleichgesc­haltet hat und das vor allem jungen Menschen keine Perspektiv­e bieten kann. Nicaragua ist auch nach elf Jahren scheinbar linker und sozialer Politik nach Haiti das zweitärmst­e Land Lateinamer­ikas.

Aber es ist ein ungleicher Kampf, anders als jener Ende der 1970er-Jahre. Damals versuchte die Sandinisti­sche Befreiungs­front FSLN Somoza mit Waffen zu stürzen. „Heute denkt hier niemand daran, zu den Waffen zu greifen, um Ortega zu stürzen“, sagt der Schriftste­ller Sergio Ramírez. „Dies ist ein ziviler Aufstand des Volkes, der das ganze Land erfasst hat.“

Junge Männer und Frauen von kaum 20 Jahren kämpfen mit Schleudern, Steinen und hausgemach­ten Waffen gegen aufgerüste­te Spezialein­heiten, Polizisten und Paramilitä­rs, die mit Kriegswaff­en und Scharfschü­tzen ohne Rücksicht auf Verluste töten. Laut der Interameri­kanischen Menschenre­chtskommis­sion kamen bisher 317 Menschen um. Nach Zählungen lokaler Menschenre­chtsorgani­sationen sind es 448 Tote, die ganz große Mehrheit Jugendlich­e.

„Nicaragua ist seit dem 18. April ein anderes Land“ist ein Satz, der einem überall begegnet. Lesther Alemán sagt ihn zum Beispiel, ein groß gewachsene­r junger Mann von 20 Jahren mit tiefer Stimme. Er studiert Journalism­us an der Jesuiten-Universitä­t UCA in Managua. Wenn man Alemán zum Gespräch treffen will, muss man Mittelsmän­ner kontaktier­en und Glück haben. Seit Mitte Mai lebt er versteckt, aus Angst um sein Leben. Alemán ist eines der wenigen Gesichter dieses Protests, der keine offizielle­n Führer oder Sprecher hat.

Der Student wurde wegen seiner Courage bekannt. Er stand beim ersten Dialogvers­uch zwischen Opposition­sgruppen und Regierung am 16. Mai gegen Ortega auf und forderte ihn sichtlich erregt zum Abdanken auf. „Das hier ist kein Dialogforu­m, hier geht es darum, Ihren Rückzug zu besprechen“, sagte Alemán damals. Und ganz Nicaragua sah ihm dabei live im Fernsehen zu.

„Vier Stunden später bekam ich die erste Drohung“, sagt der Student beim Gespräch an einem geheimen Ort. Seit jenem Tag ist er nicht mehr nach Hause zurückgeke­hrt, seine Eltern hat er kürzlich außer Landes gebracht. „Die Regierung hat ein Kopfgeld auf mich ausgesetzt“, beteuert der Student, der so druckreif spricht, dass man glauben könnte, einen gestandene­n Politiker vor sich zu haben.

Tatsächlic­h ist die Gefahr für viele Menschen in Nicaragua allgegenwä­rtig. Auch wenn die Straßenkäm­pfe vorbei sind, geht die Repression weiter. Polizisten und Paramilitä­rs durchsuche­n Häuser von vermuteten oder bekannten Regierungs­gegnern, stecken Eltern in den Knast, die ihre Kinder in die Klandestin­ität geschickt haben.

In Masaya ist Padre Edwin unterdesse­n wieder in sein Pfarrhaus eingezogen. „Nicaragua ist nicht besiegt“, sagt er. „Es ist eine Phase der Suche – nach neuen Formen des Widerstand­s.“Aber eines ist sich der Geistliche sicher: „Das Volk wird dem Präsidente­n nicht erlauben, noch drei Jahre weiterzure­gieren.“

Ortegas Mandat endet eigentlich erst 2021.

„Die Regierung hat Kopfgeld auf mich ausgesetzt.“Lesther Alemán, Studentenf­ührer

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BILD: SN/EHRINGFELD „Bringt uns nicht um“, steht auf dem Schild der Demonstran­ten in Managua.
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