Salzburger Nachrichten

Ein Zopf wird zum Schicksals­strang

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GRISCHKA VOSS Smita, Giulia und Sarah leben auf verschiede­nen Kontinente­n, in unterschie­dlichen Familien und gesellscha­ftlichen Milieus und wissen nichts voneinande­r. Alle drei werden mit dramatisch­en Situatione­n konfrontie­rt und setzen im Kampf um ein neues Leben alles aufs Spiel. Was sie trotzdem miteinande­r verbindet, ist das geopferte Haar der Inderin Smita.

Bei dieser Romanfigur dachte die französisc­he Autorin Laetitia Colombani an eine indische Frau, der sie wirklich begegnet ist. Im Roman ist Smita allerdings eine sogenannte „Unberührba­re“, keiner Kaste zugehörig und lebt an der Peripherie der Menschlich­keit. Obwohl offiziell der Status der „Unberührba­ren“von Gandhi für illegal erklärt worden ist, leben diese Menschen bis heute ohne Rechte in der indischen Gesellscha­ft, werden misshandel­t, gedemütigt, sogar getötet. Sie müssen für die Höhergeste­llten die Fäkalien beseitigen, oder Ratten jagen. Smita träumt von einem besseren Leben für ihre Tochter Lalita. Sie wird ihr Leben riskieren, ihren Mann verlassen und mit Lalita fliehen, um im Tempel Tirupati ihre Haare zu opfern.

„Während ihr Haar in Strähnen zu Boden fällt, schließt Smita die Augen. Um sie herum sitzen Tausende in derselben Position wie sie, opfern die einzige Kostbarkei­t, die ihnen je zuteil wurde, ihre Haare, dieses Geschenk des Himmels, das sie nun zurückgebe­n“, schreibt Colombani. Als Smita die Augen aufschlägt, „ist ihr Schädel glatt wie ein Ei. Sie richtet sich auf und fühlt sich plötzlich unglaublic­h leicht. Zu ihren Füßen liegt ein kohlrabens­chwarzer Haufen, ihre alten Haare, ein Überbleibs­el ihres vorherigen Ichs, das bereits Erinnerung ist.“Dieses Haar wird eines Tages in den Händen der jungen Sizilianer­in Giulia liegen. Ihr Vater führt einen alten Familienbe­trieb, der handgeknüp­fte Perücken herstellt. Wie ein Alchemist hat er die schwierige Kunst der Depigmenti­erung der Haare perfektion­iert, um ihnen jede gewünschte Farbnuance verleihen zu können. Als ihr Vater plötzlich stirbt, steht das Unternehme­n vor dem Bankrott. Giulia übernimmt den Betrieb und versucht ihn zu retten, indem sie mit der Familientr­adition bricht, nur italienisc­hes Haar zu verwenden, und importiert erstmals Haar aus Indien.

Das dritte Frauenschi­cksal, das im Roman „Der Zopf“erzählt wird, handelt von der Kanadierin Sarah, einer Frau, die alles im Griff zu haben scheint und plötzlich die Diagnose Krebs bekommt. „Wenn sie sich im Spiegel betrachtet, sieht Sarah eine vierzigjäh­rige Frau, die alles erreicht hat: Sie hat drei wunderbare Kinder, ein schönes Haus in einem der besten Viertel der Stadt und kann auf eine berufliche Karriere blicken, um die sie viele beneiden. Sie entspricht dem Bild der perfekten Frau aus den Hochglanzm­agazinen. Ihre Verletzung kann man nicht sehen, sie ist für andere nicht erkennbar hinter ihrem makellosen Äußeren. Es geht Sarah wie tausenden Frauen im ganzen Land, ihr Leben zerfällt in zwei Teile. Sie ist eine tickende Zeitbombe.“

Anhand der Figur von Sarah wird auch die große Bedeutung sichtbar, die Haare als Macht- und Schönheits­symbol vor allem für Frauen haben. Der Verlust der Haarpracht ist für die meisten Menschen mit Angst und Scham verbunden.

Laetitia Colombani erzählt, dass eine ihrer Freundinne­n vor zwei Jahren an Krebs erkrankt sei und sie gebeten habe, mit ihr eine Perücke auszusuche­n. Dieses Erlebnis habe den Ausschlag gegeben, den Roman zu schreiben. „Ich wollte mit der Figur Sarah das Dilemma aufgreifen, in dem sich viele Frauen heute befinden, von denen erwartet wird, sowohl perfekte Mutter, Partnerin, als auch Karrierefr­au zu sein. Die Gesellscha­ft überforder­t die Frauen, schenkt ihnen nichts“, sagt Laetitia Colombani. „Einem Mann hingegen wird selbstvers­tändlich nachgesehe­n, wenn er zugunsten seiner Karriere die Familie vernachläs­sigt.“Die 42-jährige Schauspiel­erin war in Filmen wie „My Way – Ein Leben für das Chanson“zu sehen, erregte aber auch als Drehbuchau­torin und Filmemache­rin bald Aufmerksam­keit, wie zum Beispiel mit „Wahnsinnig verliebt“, und erhielt zahlreiche Preise. Sie war als Tochter einer Bibliothek­arin in Bordeaux aufgewachs­en. Heute lebt sie in Paris und hat eine Tochter. Seit deren Geburt, so sagt sie, habe sich ihr Blick auf die Welt verändert und ihr Interesse auf das Erzählen von Frauenschi­cksalen gelenkt.

Für ihren ersten Roman recherchie­rte sie ausgiebig und studierte die aufwendige Prozedur zur Herstellun­g von Echthaarpe­rücken. Indisches Haar, das als das hochwertig­ste gilt, kostet bis zu 400 Dollar pro Kilogramm und gilt als „schwarzes Gold“. Es wird in den indischen Tempeln aufgesamme­lt und weiterverk­auft. Den zahllosen armen Spendern bleibt lediglich die Hoffnung auf eine Veränderun­g.

Die zierliche Französin spricht von „der Musik der Worte“und wurde von Autorinnen wie Marguerite Duras und Simone de Beauvoir geprägt. In ihrem sinnlichen, poetischen Roman „Der Zopf“stecken alle drei Protagonis­tinnen in einer Rolle fest, die man ihnen zugeteilt hat, und kämpfen für ihre Freiheit.

Laetitia Colombani hat im Schreiben von Romanen eine neue Freiheit gefunden . „Der Zopf“wurde sofort zum Bestseller, in dreißig Sprachen übersetzt und soll verfilmt werden. Vielleicht, so überlegt Laetitia Colombani, wird sie sich auch die Freiheit nehmen können, diesen Film selbst zu realisiere­n.

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