Muss i denn, muss i denn ins Städtele hinaus?
Es sind vor allem fehlende Arbeitsplätze, die Bewohner von Landgemeinden in die Städte abwandern lassen. Dennoch gibt es zaghafte Anzeichen für eine Trendumkehr.
RAPPOTTENSTEIN. 300 Einwohner zählt Rappottenstein im nördlichen Waldviertel. Wie viele andere Gemeinden in Österreich leidet auch sie unter Abwanderung. Vor allem die Jungen ziehen zum Studieren oder Arbeiten in die Ballungszentren – und bleiben irgendwann gänzlich weg. „Man kann sagen, dass wir pro Jahrzehnt etwa 30 Einwohner verlieren“, rechnet Bürgermeister Josef Wagner vor. Diese schleichende Ausdünnung der Bevölkerung sei typisch für das Waldviertel. In Rappottenstein hat man deshalb einen einzigartigen Versuch gewagt, um Hauptwohnsitzer zu gewinnen: Man hat Baugrund verschenkt.
Das war 2009. Neun Bauplätze zu je 1000 Quadratmetern standen zur freien Verfügung. Der Beschenkte musste sich lediglich verpflichten, zehn Jahre in Rappottenstein seinen Wohnsitz zu haben. Und, wenn möglich, eine Familie zu gründen. Fazit nach neun Jahren: „Vier Bauplätze sind noch zu haben“, sagt Bürgermeister Wagner. „Südlage – alles andere ist bei uns kaum zu verkaufen.“Sind die Gratisgrundstücke so schwer loszubekommen, nur weil sie Ostlage haben? Oder warum wollen die Menschen – offenbar nicht einmal geschenkt – in Gemeinden wie Rappottenstein leben? Die SN haben sich in ganz Österreich umgesehen und interessante Entdeckungen gemacht.
Nächster Halt: Eisenerz. Die Bergbaugemeinde am Fuße des steirischen Erzberges zählte bis in die 1970er-Jahre hinein 13.000 Einwohner. Aktueller Stand laut Bürgermeisterin Christine Holzweber: 3968. Die Stadt ist ein trübe gewordenes Juwel, die historische Altstadt malerisch, zwar viele Geschäfte geschlossen, aber jede Menge Potenzial, der Ausblick in die Berge ringsum grandios. „Wir haben nicht genug Arbeitsplätze“, klagt Holzweber. Obwohl vom Erzberg jährlich immer noch drei Millionen Tonnen Rohstoffe abgetragen werden. In vier Schichten, rund um die Uhr, ohne Pause. Dafür benötigt man aber nur 250 Personen, den Rest besorgen moderne Maschinen.
Man bemüht sich, stellt Tourismus-, Wissenschafts- und Sportprojekte auf die Beine, widmet die riesigen Bergbaukasernen um, die größtenteils leer stehen – dennoch: „Ohne Unterstützung könnten wir nicht überleben“, sagt Holzweber. Bund und Land hätten das eingesehen, Eisenerz sei nicht dem Untergang geweiht. Trotzdem: „13.000 Einwohner werden wir wohl nie wieder haben.“
170 Kilometer weiter westlich liegt Tweng im Lungau. Laut Statistik Austria hat der Ort in zehn Jahren knapp ein Drittel seiner Bevölkerung eingebüßt. In dieser Abwanderungstabelle ergibt das unangefochten Platz eins. Derzeit leben 280 Menschen in Tweng. „Wir sind eine Tourismusgemeinde“, verrät ein Gemeindesprecher. Das heißt: Zu Saisonbeginn melden jährlich rund 400 Menschen ihren Hauptwohnsitz an, um dort in der Gastround Hotelbranche tätig zu sein. „Mitte November wächst unsere Gemeinde unglaublich – im März oder April zerfällt sie dann quasi.“In Tweng kommt es also ganz darauf an, wann man misst. „Normale“Abwanderung gebe es freilich auch, sagt der Sprecher. Die sei aber so hoch wie überall anders auch.
Zurück in den Osten: Spital am Semmering. Bevölkerungsstand am 1. Jänner 2016: 1748. Exakt ein Jahr später: 1550. Die Zahlen seien nicht ganz fair, sagt Bürgermeister Reinhard Reisinger. „Wir hatten ab 2014 bis zu 350 Asylbewerber, die alle bei uns hauptgemeldet waren. Jetzt sind es nur noch 30.“Dass Spital dennoch laufend Einwohner einbüßt, stellt Reisinger allerdings nicht in Abrede. „Wir warten auf die Bahn“, sagt er. Gemeint ist die für 2026 geplante Fertigstellung des Semmering-Basistunnels. Dann gibt es beim Pendeln nach Wien oder Graz täglich eine Stunde Zeitersparnis. Denn die Arbeitsplätze in der Region seien „sehr dünn gesät“. Die Infrastruktur wäre gut, auch was die Kinderbetreuung betrifft. „Nur gibt es Jahre, da kommen fünf, sechs Kinder auf die Welt – wir haben aber 20 Sterbefälle.“Gemeindebundpräsident Alfred Riedl sieht den Abwärtstrend durchaus gestoppt: „Wenn wir uns die Entwicklung der letzten Jahre ansehen, so zeigt sich, dass die Zahl der Abwanderungsgemeinden zurückgeht. Während vor fünf Jahren noch in mehr als der Hälfte der österreichischen Gemeinden die Bevölkerung weniger wurde, sinken die Zahlen jetzt ,nur‘ mehr in rund einem Drittel. Das zeigt, dass der Trend, von der Stadt in die umliegenden Regionen zu ziehen, weiter anhält und viele ehemalige Abwanderungsgemeinden heute Zuzugsgemeinden sind.“
Wenn man etwa den Speckgürtel rund um Wien betrachtet, der sich ständig verbreitert, muss man Riedl recht geben. Selbst einst „ausgestorbene“Kommunen im zentralen Weinviertel können mittlerweile bei den Grundstückspreisen ein Vielfaches von einst verlangen. Ist die Verkehrsanbindung gut, so sind die Menschen auch bereit, täglich zur Arbeit zu pendeln. So entscheiden sich in den erweiterten Ballungsräumen immer mehr für ein Eigenheim außerhalb der Städte.
Für Rappottenstein gilt das nicht. Glücklich, wer im Ort Arbeit findet. Oder im 15 Kilometer entfernten Zwettl. Danach wird es düster. Was nützen einem da Kindergarten, Landarzt, Supermarkt, Natur und gute Luft direkt vor der Haustür?
Schnelles Internet ist laut Riedl ein Teil der Lösung. Stichwort: Teleworking. Und leistbare Grundstückspreise. Ein Tipp aus Rappottenstein: Aber bitte nur mit Südlage.
„Wir haben nicht genug Arbeitsplätze.“Christine Holzweber, Bürgermeisterin „Die Abwanderung geht zurück.“Alfred Riedl, Gemeindebund