Weitere eingefrorene Konflikte an Russlands Außengrenzen
INNA HARTWICH
„Die Liebe ...“Raissa Odischwili macht eine Handbewegung, als würde sie Wespen aus den Weinreben rund um ihre Terrasse vertreiben. Kenne ja jeder, wie das so sei, was die Liebe ertragen und verschmerzen lasse. Sie lebt in Zerowani, einer Siedlung für Binnenflüchtlinge an der Südflanke des Großen Kaukasus, in einer Ansammlung gleich großer Häuser mit roten Dächern an den gleich breiten Straßen, die nur Nummern haben, keine Namen. Die Russin lebt seit 1972 in Georgien, damals noch Georgische Sozialistische Sowjetrepublik. Sie ist ihrem Giorgi gefolgt, dem Georgier. Die beiden richteten sich in der Region Achalgori ein, das die Sowjets Leningor nannten, knapp 40 Kilometer von der georgischen Hauptstadt Tiflis entfernt. Südossetisches Gebiet. Hier bekam Raissa Odischwili vier Kinder und die Familie wurde aus Angehörigen der Sowjetunion zu Bürgern Georgiens – bis wieder der Krieg zu ihnen kam. Im August vor zehn Jahren.
In der Nacht zum 8. August 2008 marschierten georgische Truppen in Südossetien ein, Tiflis hatte sich von Moskau bedroht gefühlt, zu sehr hatte Russland in den Jahren zuvor das kleine Georgien provoziert, hatte Südossetien wie auch Abchasien finanziell und militärisch In Transnistrien herrschte von März bis August 1992 Krieg. Die Region, östlich des Flusses Dnister, wurde nach dem Zerfall der Sowjetunion Teil der Republik Moldau. Sie verfügt aber über eine eigene Regierung, Verwaltung, Währung und Militär – und damit über eine De-facto-Unabhängigkeit. Transnistrien, das knapp 200 Kilometer lang ist und 500.000 Einwohner zählt, wird von keinem anderen Land als Staat anerkannt. Es ist international isoliert, erhält aber tatkräftig finanzielle und ideelle Unterstützung durch Russland. unterstützt. Auf dem Silbertablett habe der damalige georgische Präsident Micheil Saakaschwili den Russen die Provinzen präsentiert. Seit Georgiens Unabhängigkeit wollten Südossetien und Abchasien mehr sein, als Tiflis ihnen zu gewähren bereit war. Stattdessen wurden die umfangreichen kulturellen Sonderregelungen der beiden Provinzen aufgehoben und ethnische Georgier von der Regierung dort angesiedelt.
Seit diesem ungleichen Kräftemessen zwischen dem einst so aufstrebenden und später so tief gefallenen Saakaschwili mit seinem Widersacher Putin lebt Raissa mit ihrer Familie in einer schnell hochgezogenen Bleibe in Zerowani. So wie fast alle, die aus Achalgori geflohen waren. 8000 Menschen in 2200 Häusern, jedes knapp 60 Quadratmeter groß. Gleich nach dem Krieg war die Siedlung entstanden, kaum jemand von damals hat sie bis heute verlassen. „Wir haben uns hier eingelebt“, sagt Raissa Odischwili, die 45 Lari – umgerechnet etwa 15 Euro – Zuschuss vom Staat bekommt und eine kleine Pension. Der Konflikt von damals, er bestimmt auch heute das Leben in Zerowani, die Menschen vergessen ihn nicht, sie verdrängen ihn. „Unsere Enkel sollen nichts darüber erfahren.“
Über schlimme Erfahrungen sprechen, gar psychologische Hilfe Der Konflikt um Bergkarabach geht bis zur Russischen Revolution 1917 zurück: Damals erklärten sich sowohl Armenien als auch Aserbaidschan für unabhängig und stellten Ansprüche auf das Gebiet. Nach dem Zerfall der Sowjetunion spitzte sich die Situation weiter zu. 1992 bis 1994 kam es in der Region zu Krieg und Vertreibungen. Als Armeniens Schutzmacht unterstützt Russland bis heute dessen Ansprüche auf Bergkarabach, obwohl es völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört. Seit der völkerrechtswidrigen Annexion der ukrainischen Halbinsel in Anspruch nehmen, das sei „nicht so das Ding der Georgier“, sagt Ekaterine Saridse. Sie war knapp 15, als sie nach Zerowani kam, ebenfalls geflohen aus Achalgori. „Zerowani ist nun so etwas wie ein Zuhause“, sagt die Arabistin, die in einem typischen Siedlungshaus für die Organisation „Für eine bessere Zukunft“arbeitet. Freiwillige aus der ganzen Welt helfen hier mit. Bewerbungstrainings bieten sie an, wollen die Binnenflüchtlinge wettbewerbsfähiger machen auf dem ohnehin nicht einfachen georgischen Arbeitsmarkt. „An eine Rückkehr ist nicht zu denken“, sagt die junge Ekaterine Saridse genauso wie die Pensionistin Raissa Odischwili.
In Südossetien und noch mehr in Abchasien sind de facto staatliche Gebilde entstanden. Während Südossetien zu den ärmsten Regionen im Kaukasus gehört, hat Abchasien durchaus eine differenzierte Öffentlichkeit. Wirtschaftlich aber hat Russland beiden abtrünnigen Provinzen mehr zu bieten als Georgien. Für Moskau, das den Neoimperia- Krim im Jahr 2014 gehört sie de facto zum russischen Staatsgebiet. Auch die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk werden im Krieg gegen Kiew unter anderem mit Waffen aus Moskau unterstützt. Der Kreml nutzt die Eskalationsherde an den russischen Außengrenzen zur Sicherstellung seiner Macht. Damit hindert Russland kleinere Länder, die einst zur Sowjetunion gehörten und später unabhängig wurden, an ihrer Ausrichtung am Westen und in weiterer Folge an einer Mitgliedschaft in der NATO oder der EU. lismus pflegt und weiterhin in Einflusszonen denkt, bietet der ethnoterritoriale Konflikt eine Möglichkeit, Georgiens Weg – wie auch den der Ukraine, wo sich Ähnliches abspielt – in die NATO zu verhindern. Ungelöste Konflikte reichen aus, damit die Bündnismitglieder die Aufnahme aus formalen Gründen ablehnen. Dabei ist es fast schon georgisches Staatscredo, sich aus vollem Herzen zum Westen zu bekennen, weil nur dieser aus georgischer Sicht Freiheit, Wachstum und Stabilität bietet.
„Niemand hat mit dem Krieg sein Ziel erreicht“, sagt der Politologe und einstige georgische Minister für Versöhnung Paata Sakareischwili in Tiflis. „Georgien hat sich in eine komfortable wie gefährliche Lage manövriert: Im Schatten eines aggressiven Russlands versteckt es seine eigenen Sünden. Es ist bequem zu sagen, der Russe sei der Feind und Europa agiere passiv“, sagt Sakareischwili. Es müssen mutige Schritte her, die georgische Regierung aber habe Angst.
Das Land, das in einer Region voller Autokratien als „Insel der Demokratie“gilt, hat einen Abgrund zwischen sich und den beiden abtrünnigen Provinzen geschaffen. Dabei, so sagt Tedo Dschaparidse, der außenpolitische Berater des georgischen Ministerpräsidenten, könne Georgien als Beispiel für Länder dienen, die auf dem schwierigen Weg zur Demokratie seien. Der 71-Jährige sagt: „Wir haben immer viel über Territorien gesprochen und wenig über die Menschen, die Abchasen, die Osseten. Wir müssen Fehler anerkennen, die wir, Georgier, begangen haben. Es liegt alles an uns. Europa ist derzeit ohnehin viel mit sich selbst beschäftigt“. Eine Mittelklasse müsse sich entwickeln, eine lebhafte Zivilgesellschaft. Das wünschen sich viele in einem Land, wo 40 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben. Vielleicht, so hoffen einige, gebe man dann auch mehr Freiheiten an die Abchasen und die Osseten – „und sie kommen zu uns zurück“. „Ein ganz ferner – und ganz schöner Traum“, sagt Raissa Odischwili zwischen den roten Dächern von Zerowani.
„An Rückkehr ist nicht zu denken.“