Ein Einsamer ringt mit seiner Schuld
„Kommt ein Pferd in die Bar“beginnt schwungvoll und deftig und wird dann zum fast alleinigen Parforceritt des Hauptdarstellers.
Das Abenteuer der Selbstbezichtigung beginnt vielversprechend. „Einen wunderbaren guten Abend“, ruft der Mann im schillernd grauen Anzug ins Publikum und attackiert frech eine Dame in der siebten Reihe mit einem abartigen Kompliment für ihre üppigen Lippen. Dann macht er sich über „Botox deluxe“und Brustverkleinerung einer anderen Dame lustig. Mit heftigen Witzen, die bald vulgär werden, trumpft der Schauspieler Samuel Finzi auf. Als Stand-upComedian Dovele Grinstein hat er einen langen Abend vor sich.
Dafür legt Samuel Finzi einen prächtigen Start hin. Er changiert blitzschnell von zornig zu charmant, von melancholisch zu sarkastisch, von verbittert zu frech. In Sprache und Geste trägt er dick auf: Er ist ja der Darsteller eines Darstellers, der als Alleinunterhalter sein zahlendes Publikum zum Lachen bringen muss. Immer wilder und schamloser reitet er durch seine immer obszöner werdenden Witze. Für den – in der Premiere am Mittwoch bald eintretenden – Fall, dass dies einem Salzburger Festspielgast zu viel werden sollte, hat er vorgesorgt: Mit Kreide malt er für jeden fliehenden Besucher einen Strich auf den Bühnenboden.
Die Vulgarität der Witze mag empören. Doch: So deftig ist das Genre der Stand-up-Comedy und so gnadenlos ist die Vorlage für diese Premiere der Salzburger Festspiele in Koproduktion mit dem Burgtheater. David Grossmans Roman „Kommt ein Pferd in die Bar“hat Dušan David Pařízek fürs Theater gefasst, inszeniert und die Bühne gestaltet. Dessen Hauptfigur Dovele hat genug Gründe, wie in der Aufführung zu erfahren sein wird, auf Harmlosigkeit und Scham zu pfeifen. Ein Grund ist sein Schuldgefühl, das zu einem dramatischen Ende führen wird: Er wird sich nach mutigem, furiosem Ringen zu einer Lebensbeichte durchringen.
Als Dovele nach einem Vergleich seiner Zeugung mit der Suezkrise – David Grossman hat einige subtile Parallelen zu Israel eingebaut – den Kern seiner Schuld zur Sprache bringt, nämlich dass er Vater und Mutter verraten habe, da wird dieser Schlüsselsatz szenisch kräftig unterlegt: Samuel Finzi prügelt auf sich ein, wirft sich an die auf der Bühne aufgestellte Holzwand, zerreißt
Pitz über Dovele
seine Jacke und hat plötzlich Blut am Kopf. Diese Selbstbezichtigung wird via Minikamera auf der Wand vergrößert und endet in einem riesigen Video-Still seines blutverschmierten Gesichts.
Mit dieser starken Szene endet der prägnant inszenierte Teil der Aufführung. Denn nun nimmt Dušan David Pařízek viel Wind aus den Segeln, indem er dem Festspielpublikum die Rolle des auch im Roman vorkommenden Publikums von Dovele zuweist. Es beginnt also ein Stück Mitspieltheater. Die Damen sollen „Barambambam“singen, die Männer sollen mit den Fingern so schnippen, wie Samuel Finzi sie dirigiert, um dazu „Bye bye love, bye bye happiness, hello loneliness“zu singen. Bald darauf malt er die ersten zwei Kreidestriche auf den Boden. Allerdings sollten bis 22.10 Uhr nur wenige hinzukommen. Wacker findet Samuel Finzi wieder in den Plot zurück, indem er sich bei Doveles Sätzen in David Grossmans Roman bedient: „Es ist anstrengend, die Leute zum Lachen zu bringen.“Dann beklagt er „den Stress, um jeden Preis witzig sein zu müssen“. Oder später: „Glaubt ihr, ich merke nicht, wie mir der Abend entgleitet?“
Als der nächste mühselige Versuch für Mitmachtheater misslingt, wobei die Herren sich vor den Damen hätten verneigen sollen, wendet sich Samuel Finzi einer scheinbaren Festspielbesucherin zu. Da er mit der Kamera deren Gesicht mit arg rot beschmierten Lippen aufnimmt, das sogleich riesig auf der Bühnenwand erscheint, ist das freilich eine Schauspielerin – Mavie Hörbiger als jene Pitz, die Dovele aus der Kindheit kennt und die dessen derbe Witze kaum lustig findet.
Mavie Hörbiger wird in dieser Inszenierung so etwas wie die Werke in „Jedermann“: das gute, liebe Alter Ego, das Dovele offenbar zu früh vergessen hat. Hätte er Pitz nicht übersehen, müsste er nicht seine Einsamkeit bekennen: „Der Einzige, der mich nie aufgegeben und im Stich gelassen hat, bin ich.“
Mavie Hörbiger mag noch so einfühlend und agil spielen und sich als Stadtpomeranze profilieren, ihre Figur bleibt Beiwerk zu Doveles langen Solos. Im Roman ist sie Teil einer Dreierkonstellation, aus der aber Dušan David Pařízek fürs Theaterstück die Figur des Richters herausgebrochen hat. Was David Grossman im Wechsel der Sichtweisen Doveles und des Richters erzählt, etwa der beiden furchtbare Begegnung im israelischen Jugendcamp, wird hier zum Langstreckenmonolog Doveles. Dieser wird mit einigen illustrierenden oder ergänzenden Zuspielen Mavie Hörbigers – samt einer belanglosen Rhythmus-Nummer am Klavier – mehr unterbrochen als bereichert.
Der Regisseur hat noch einige szenische Lösungen erfunden, etwa Doveles Kletterei auf einem Kleiderständer, während er die Schikanen im Camp schildert, oder seine rasenden Drehungen in der Bühnenmitte, während er von der grauenhaften Autofahrt zu jenem Begräbnis erzählt, von dem der einst 14Jährige nicht wusste, ob Vater oder Mutter tot war. Dass er dabei jeden der beiden für tot wähnt, erzeugt ein Schuldgefühl, das sein Leben vergiften und in der Selbstbezichtigung dieses Abends münden wird. In dieser Szene wird das auf der Bühne rotierende, ausdrucksstarke Gesicht Samuel Finzis auf die Ziegelwand des republic projiziert. An all dem beeindruckt die athletische Anstrengung mehr als eine etwaige szenische Bedeutung.
Der anfänglich beißende Sarkasmus der Stand-up-Comedy ist längst verspielt. Als Samuel Finzi – wenn gestische und szenische Fantasie ermattet sind – in zerrupftem Anzug einfach Grossmans Text rezitiert, gehen zwar im hohen Sprechtempo manche Pointen verschütt, doch es entstehen rührende, packende Momente. Erinnert man sich da an die Darbietung von „Aus der Zeit fallen“am Dienstagabend, käme vermutlich dieser Roman in einer Lesung inklusive Richterrolle besser zur Geltung als in der zweiten Hälfte dieser Aufführung, die glücklicherweise zwanzig Minuten kürzer wurde als die im Programmheft angegebenen drei Stunden.
Aber unbedingt: Chapeau! Chapeau für Samuel Finzi und seinen Parforceritt durch diese faszinierende Geschichte über die Einsamkeit eines Kindes geschundener Eltern, über das einsame Verzweifeln in einem kriegführenden Land und über Sarkasmus und Humor. Schauspiel: „Kommt ein Pferd in die Bar“, Dramatisierung des gleichnamigen Romans von David Grossman, Koproduktion mit dem Burgtheater, Salzburger Festspiele, bis 23. August.
„Dein Gesicht spiegelt meines, auch wenn du es nicht merkst.“