Ein tosendes Herz im Sturm
Die Devise für Philipp Hochmair als Jedermann lautete: Durchkommen! Und er wird es auch heute, Samstag, noch einmal tun müssen.
SALZBURG. Vor knapp 30 Stunden habe sie Philipp Hochmair angerufen, und der habe „kaum eine Zehntelsekunde“mit seiner Antwort „Wenn du mich brauchst, bin ich da“gezögert, erzählte Schauspielchefin Bettina Hering, bevor am Donnerstagabend eine der ungewöhnlichsten Vorstellungen in der Geschichte der Salzburger Festspiele beginnen sollte. Nach Angaben des Pressebüros ist es seit 1920 erst ein Mal vorgekommen, dass ein Jedermann ausgefallen ist.
Am 28. August 1932 ist Raul Lange für Paul Hartmann eingesprungen. Raul Lange hatte in früheren Vorstellungen – damals noch in Max Reinhardts Urversion – die Stimme des Herrn interpretiert. Er kannte also die Inszenierung genau, da er schon im ersten „Jedermann“1920 sowie in vier weiteren Jahren mitgewirkt hatte.
Die Situation am Donnerstag war zweifach neu. Während 1932 Paul Hartmann seinen Auftritt vermutlich wegen eines UFA-Engagements für einen Film abgesagt hatte, ist Tobias Moretti der erste in der fast 100-jährigen „Jedermann“-Geschichte, der erkrankt ist. Die vor der brenzligen Aufführung von Bettina Hering verkündeten Genesungswünsche an Tobias Moretti bestätigte das Publikum auf dem Domplatz mit Sonderapplaus.
Zudem kannte – anders als einst Raul Lange – der heurige Einspringer Philipp Hochmair die derzeitige Inszenierung Michael Sturmingers bis zum Vorabend noch nicht. Ihm blieb nur ein Tag, um möglichst viel von dem einzustudieren, wofür sonst mehrere Wochen zur Verfügung sind.
Allerdings hatte Philipp Hochmair einen anderen Vorteil: Da er seit 2013 in seiner Solo-Performance „Jedermann Reloaded“immer wieder das gesamte Stück Hugo von Hofmannsthals aus sich heraussprudelt, war ihm am Donnerstag kein Monolog zu lang – nicht jener vom Geld, das für ihn werken und laufen muss, und nicht jener von Lustgarten und Lusthaus. Ach ja! Das war am Donnerstag wie eh und je mit „offenem Althan“und „schönen steinernen Säulen daran“, und sogar der seit zwei Jahren nicht mehr vernommene „Ruch von Blumen mancher Art“war wieder da. Philipp Hochmair blieb strikt bei dem, was er längst intus hatte: Hofmannsthals Original. Diesem fielen die Um- und Hinzudichtungen von Moretti/Sturminger zum Opfer; so wurde das Taufbecken im Dom nicht zum Badehaus mit Meeressand für die Buhlschaft. Und doch! Roland Renner als Armer Nachbar fügte mit dem Hinweis auf den Kauf von Domplatz und Dom einen Aspekt aus Morettis Version hinzu.
Solches Detail oder eine kleine Handbewegung Hanno Kofflers als Guter Gesell, um seinen Herrn an die richtige Bühnenposition zu führen, machten deutlich, wie behutsam sich das Ensemble um den Neuen kümmerte.
Der warf sich wie mit einem Köpfler vom Zehn-Meter-Brett in seinen Auftritt. Ohne merkliche Scheu begann er mit „Mein Haus hat ein gut Ansehn“in so kräftigem Ton, als wollte er der Welt zeigen, dass er auch ohne Mikroport die Lufthoheit über den Domplatz zu übernehmen bereit ist. Immer alert und in großzügigen Bögen bewegt er sich auf der riesigen Bühne. Mit fast berstender Laune spricht er über „fröhliche Tag’“, die er sich machen wolle. Einfühlend hört er zu, wenn Armer Nachbar und Schuldknecht ihm ihre Sicht von Gerechtigkeit erklären. Wie ein frecher, ungehobelter Lebemann hadert er mit seiner weisen, frommen Mutter. Mit kreischendem Juchzer nähert er sich seiner Buhlschaft, die er herzhaft küsst. Wütend verkündet er seiner Tischgesellschaft, dass er sie alle kaufen könnte. Angststarr hört er den Tod kommen.
Freilich: Die Stimmungswandel sind oft zu abrupt. Das Zusammenspiel in Szenen ist oft holprig oder nicht vorhanden. Einsam wirkt dieser Jedermann in der Tischgesellschaft nicht, weil er es so spielt, sondern weil es schwierig ist, sich in so komplexe Szenen einzuklinken. Und es braucht ungeübt auch ein paar Sekunden Umschauen und vorbereitende Konzentration, um auf einem Sessel sitzend umzukippen, ohne sich zu verletzten.
Aber die Devise des Abends lautet für diesen Jedermann: Durchkommen!
Und Philipp Hochmair schafft das bravourös, weil er sich mit Wagemut und Verve darauf einlässt.
Zugute kommt ihm seine verlässliche Kenntnis des Textes. Und zugute kommt dieser ungewöhnlichen Aufführung auch das Wetter in einem Timing, wie es sich Max Reinhardt erträumt haben könnte. Kurz bevor um neun Uhr die Domglocken das Spiel einläuten, zieht eine in der Tageshitze oft ersehnte Brise über den Domplatz und versetzt den leichten, weißen Vorhang vor dem Dom in luftiges Wallen.
Als die Stimme des Herrn erklingt, die Regisseur Michael Sturminger vom Anfang in die Mitte verlegt hat, tritt plötzlich ein heftiger Wind auf, der bald darauf der Tischgesellschaft den Blumenschmuck wegfegt und zwei Vasen zerhaut. Als der Tod zum zweiten Mal kommt, ist daraus schon ein Sturm geworden. Und wer in den ersten Sitzreihen Glück hatte, dem flog ein Goldfaden aus dem Pelz des Mammon als Souvenir zu.
In dieser ungewöhnlichen Aufführung fiel noch etwas auf: Neben dem Einspringer kamen andere Rollen mehr als sonst zur Geltung – wie Fritz Egger als zorniger Schuldknecht, Martina Stilp als dessen aufgebrachte Frau oder Johannes Silberschneider als herrlich souveräner Glaube.
Und in gut gebauten Szenen mit vorzüglichen Kollegen kann auch der Einspringer mithalten. So ist es faszinierend, wie feinsinnig Edith Clever als Mutter auf den plötzlich anderen Sohn eingeht. Mavie Hörbiger als Werke springt auch dem Neuen gnadenlos auf dessen Schultern, dass der sich wie eine schwer beladene Ameise abmüht. Und weil Philipp Hochmair in seiner SoloPerformance ja alle Rollen zugleich spielt, kann er mit Mavie Hörbiger einen Vierzeiler gleich im Duett sagen: „Ich war ein Kelch, der vor dir stand, gefüllt vom Himmel bis an den Rand ...“
Christoph Franken als Mammon verführt den anderen Jedermann zuerst zu kreischend übermütigem, siegessicherem Lachen, bevor er ihm klarmacht, wie zwergisch klein, welch braver Hampelmann und ungebrannter Narr er gewesen sei. Philipp Hochmair lässt sich vom
Man sah einen der seligsten Jedermänner im Schlussapplaus.
Mammon bei Weitem nicht so brutal vergewaltigen wie der da viel wehrhaftere Tobias Moretti.
Und dann erst Stefanie Reinsperger! Sie kommt neben dem darstellerisch ungelenken Geliebten mit allen Buhlereien zum Brillieren. Sie bezirzt und umgarnt ihn, sie erfreut sich seiner mit betörendem Lächeln, sie sorgt sich um ihn, sie tanzt ausgelassen und nimmt verständnislos und traurig von ihm Abschied.
Als dieser Jedermann in schwarzer Hose und weißem Hemd aus dem Dom tritt, sagt er zwar, er müsse jetzt ins Grab, „das schwarz ist wie die Nacht“. Doch da steht Philipp Hochmair triumphierend im gleißenden Licht und bietet seinen Mund dem Tod zum letzten Kuss an.
Einunddreißigeinhalb Stunden nach Bettina Herings Anruf sah man einen der seligsten Jedermänner im Schlussapplaus. Philipp Hochmair zauderte, als es an ihm war, aus der Reihe des Ensembles hervorzutreten. Darf das jetzt wahr geworden sein? Er tat es doch, trat allein an die Rampe und empfing ein Tosen. Und erst Stefanie Reinsperger! Auch als gratulierende Kollegin herzte, drückte und begleitete sie ihren Jedermann mit freudigem, anerkennendem Lachen.