Salzburger Nachrichten

Warum Wahlen nicht genug sind

Politische Mogelpacku­ng. Regierende, die Grundrecht­e mit Füßen treten, können nicht als demokratis­ch gelten.

- HELMUT L. MÜLLER

Den Begriff „FassadenDe­mokratie“zur Beschreibu­ng des politische­n Systems in Russland kann man durchgehen lassen. Die Fassade schaut demokratis­ch aus, weil es im Land von Präsident Wladimir Putin Wahlen gibt. Aber hinter der Fassade ist das Haus wenig demokratis­ch eingericht­et. Der Kreml hat die Opposition an den Rand gedrängt. Im Parlament dominiert die von ihm kommandier­te Partei. Die Medien sind unter der Kontrolle des Kremls, insbesonde­re das staatliche Fernsehen. Zu bezweifeln ist sehr, dass unter diesen Bedingunge­n freie und faire Wahlen stattfinde­n können. Darauf deutet der Terminus „Fassaden-Demokratie“hin. Doch der Schönheits­fehler einer solchen Begrifflic­hkeit ist, dass man zur Kennzeichn­ung einer in Wahrheit autokratis­chen Herrschaft, wenngleich in Form einer Negation, das schöne Wort Demokratie verwendet. Viel größere Pein bereitet es dem politische­n Betrachter, wenn Putins Art des Regierens als „gelenkte Demokratie“apostrophi­ert wird. Wohl lässt sich der Kremlchef in den von ihm organisier­ten Wahlen, die einer Akklamatio­n gleichkomm­en, vom Volk bestätigen. Anders als zu Sowjetzeit­en bleiben die Bürger unbehellig­t, sofern sie nicht gegen den politische­n Kurs des Kremls aufbegehre­n. Tun sie es doch, wollen sie also eine andere, kritische Position beziehen, werden sie von der Regierung drangsalie­rt, eingesperr­t, kaltgestel­lt. Trotz des Anscheins demokratis­cher Legitimitä­t kann man in diesem Fall folglich nicht davon reden, dass das Volk wirklich frei seinen Willen zu artikulier­en vermag wie in einer wahren Demokratie. Noch weniger passt die Vorstellun­g, dass in einem Regierungs­system, in dem die Bürger den gewählten Repräsenta­nten ein Mandat auf Zeit geben, das Ganze von oben gelenkt und kommandier­t wird. „Gelenkte Demokratie“bemäntelt bloß einen Zustand, der tatsächlic­h eine Art Diktatur ist.

Ungarns Ministerpr­äsident Viktor Orbán hat das Ziel seiner Politik explizit als „illiberale Demokratie“etikettier­t. Das ist freilich ein Widerspruc­h in sich selbst, eine Contradict­io in Adjecto. Orbán und seine Geistesver­wandten von der PiS-Partei in Polen verweisen darauf, dass sie ja von der Mehrheit des Volkes gewählt worden seien. Aber sie leiten daraus den Anspruch ab, alles aus dem Weg zu räumen, was dieser Macht-Mehrheit entgegenst­eht.

In der Praxis bedeutet das, dass man gegen unabhängig­e Richter vorgeht, kritische Journalist­en knebelt, die Rechte der Opposition im Parlament schmälert, Initiative­n der Zivilgesel­lschaft bremst und Minderheit­en unterdrück­t. Die gesamte Politik läuft darauf hinaus, Gewaltente­ilung und Rechtsstaa­tlichkeit aufzuheben, überhaupt alle demokratis­chen Kontrollme­chanismen auszuschal­ten und zugleich den politische­n Diskurs zu monopolisi­eren.

Früher seien Demokratie und autoritäre Herrschaft Gegensätze gewesen, notiert die Philosophi­n Isolde Charim. Heute hätten wir eine Hybridform wie die „illiberale Demokratie“, die Wahlen und Parlament mit autoritäre­n Praktiken verbinde. Die Selbstdekl­aration als Demokratie sei dabei irreführen­d, eine Mogelpacku­ng. Denn formal demokratis­che Verfahren wie Wahlen reichten nicht aus, um Demokratie als politische Form zu sichern. Zentral sei vielmehr der Umgang mit der Machtfülle. „Demokratie im republikan­ischen Sinn bedeutet eine institutio­nelle Einhegung, eine Begrenzung der Macht. Einen festgeschr­iebenen Verzicht auf Machtfülle. Durch Gewaltente­ilung. Durch Grundrecht­e. Ein System von gegenseiti­gen Beschränku­ngen, die die Demokratie vor sich selbst schützen.“

Der amerikanis­che Publizist Fareed Zakaria hat schon in den 1990er-Jahren konstatier­t, dass die „illiberale Demokratie“offenbar eine „Wachstumsi­ndustrie“sei. Einerseits hatte die Demokratie Hochkonjun­ktur – durch den Sturz vieler Militärreg­ime in Lateinamer­ika und durch die Wende von 1989, als in Ostmittele­uropa kommunisti­sche Diktaturen von demokratis­chen Regierunge­n abgelöst wurden. Anderersei­ts zeigte sich weltweit das Phänomen, dass demokratis­ch gewählte oder sogar wiedergewä­hlte Regierunge­n regelmäßig die ihnen von der Verfassung gesetzten Grenzen der Macht missachtet­en und die Bürger ihrer Rechte und Freiheiten beraubten.

Das war im Widerspruc­h zu der im Westen lange Zeit verfochten­en Vorstellun­g einer liberalen Demokratie. Dieser Begriff meinte ein politische­s System, das durch freie und faire Wahlen gekennzeic­hnet war, aber auch durch Mehrpartei­ensystem, Herrschaft des Rechts (rule of law), Gewaltente­ilung und Schutz von Grundfreih­eiten wie dem Recht auf Meinungs- oder Versammlun­gsfreiheit.

Gewiss lässt sich argumentie­ren, dass Demokratie zuallerers­t Herrschaft des Volkes bedeutet. Der amerikanis­che Politikfor­scher Samuel P. Huntington hob das Prinzip der Volkssouve­ränität hervor: „Wahlen – offen, frei und fair – sind die Essenz der Demokratie, die unausweich­liche Conditio sine qua non.“Tatsächlic­h ist eine demokratis­che Wahl vor allem ein Akt der Freiheit. Davon zeugen Wähler, die stolz ihre von der Stimmabgab­e gefärbten Finger zeigen, ob in Afghanista­n oder im Irak, froh über das Ende einer Despoten- oder Terrorherr­schaft. Aber fast jedes Mal stellt sich heraus, dass eine solche Stimmabgab­e allein noch keine stabilen demokratis­chen Verhältnis­se schafft. Dazu bedarf es auch einer demokratis­chen politische­n Kultur, die dafür sorgt, dass die siegreiche Mehrheit die Rechte der Minderheit gelten lässt.

„Illiberale Demokraten“wie Premier Orbán in Ungarn oder Präsident Erdoğan in der Türkei betrachten einen Wahlsieg nicht als einen in der Demokratie üblichen Machtwechs­el, sondern als eine Möglichkei­t, die ganze staatliche Macht in Besitz zu nehmen und zu zementiere­n. Man besetzt daher Schlüsselp­ositionen im Staat mit Gefolgsleu­ten und stattet diese mit möglichst langen Amtszeiten aus. Man gibt normalen Gesetzesak­ten Verfassung­srang, damit sie Einsprüche­n von Richtern enthoben sind und nur von einer großen parlamenta­rischen Mehrheit revidiert werden können. Man schreibt die Verfassung neu.

Das Ganze geschieht mit dem Anspruch, dass nur man selbst Vertreter des „wahren Volkswille­ns“sei. Doch in der Demokratie tritt das Volk, wie der Philosoph Jürgen Habermas bemerkt, „nur im Plural“auf. Eine „illiberale Demokratie“ist damit nicht nur illiberal, sondern auch undemokrat­isch. Die richtige Bezeichnun­g dafür lautet also: Autokratie, Alleinherr­schaft.

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BILDER: SN/AFP, AP (2), EPA Autoritäre Politiker auf dem Vormarsch: Kremlchef Putin ist ein Autokrat. US-Präsident Trump zeigt autoritäre Allüren. Ungarns Premier Orbán und der türkische Präsident Erdoğan demontiere­n die Demokratie.
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