Warum Wahlen nicht genug sind
Politische Mogelpackung. Regierende, die Grundrechte mit Füßen treten, können nicht als demokratisch gelten.
Den Begriff „FassadenDemokratie“zur Beschreibung des politischen Systems in Russland kann man durchgehen lassen. Die Fassade schaut demokratisch aus, weil es im Land von Präsident Wladimir Putin Wahlen gibt. Aber hinter der Fassade ist das Haus wenig demokratisch eingerichtet. Der Kreml hat die Opposition an den Rand gedrängt. Im Parlament dominiert die von ihm kommandierte Partei. Die Medien sind unter der Kontrolle des Kremls, insbesondere das staatliche Fernsehen. Zu bezweifeln ist sehr, dass unter diesen Bedingungen freie und faire Wahlen stattfinden können. Darauf deutet der Terminus „Fassaden-Demokratie“hin. Doch der Schönheitsfehler einer solchen Begrifflichkeit ist, dass man zur Kennzeichnung einer in Wahrheit autokratischen Herrschaft, wenngleich in Form einer Negation, das schöne Wort Demokratie verwendet. Viel größere Pein bereitet es dem politischen Betrachter, wenn Putins Art des Regierens als „gelenkte Demokratie“apostrophiert wird. Wohl lässt sich der Kremlchef in den von ihm organisierten Wahlen, die einer Akklamation gleichkommen, vom Volk bestätigen. Anders als zu Sowjetzeiten bleiben die Bürger unbehelligt, sofern sie nicht gegen den politischen Kurs des Kremls aufbegehren. Tun sie es doch, wollen sie also eine andere, kritische Position beziehen, werden sie von der Regierung drangsaliert, eingesperrt, kaltgestellt. Trotz des Anscheins demokratischer Legitimität kann man in diesem Fall folglich nicht davon reden, dass das Volk wirklich frei seinen Willen zu artikulieren vermag wie in einer wahren Demokratie. Noch weniger passt die Vorstellung, dass in einem Regierungssystem, in dem die Bürger den gewählten Repräsentanten ein Mandat auf Zeit geben, das Ganze von oben gelenkt und kommandiert wird. „Gelenkte Demokratie“bemäntelt bloß einen Zustand, der tatsächlich eine Art Diktatur ist.
Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán hat das Ziel seiner Politik explizit als „illiberale Demokratie“etikettiert. Das ist freilich ein Widerspruch in sich selbst, eine Contradictio in Adjecto. Orbán und seine Geistesverwandten von der PiS-Partei in Polen verweisen darauf, dass sie ja von der Mehrheit des Volkes gewählt worden seien. Aber sie leiten daraus den Anspruch ab, alles aus dem Weg zu räumen, was dieser Macht-Mehrheit entgegensteht.
In der Praxis bedeutet das, dass man gegen unabhängige Richter vorgeht, kritische Journalisten knebelt, die Rechte der Opposition im Parlament schmälert, Initiativen der Zivilgesellschaft bremst und Minderheiten unterdrückt. Die gesamte Politik läuft darauf hinaus, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit aufzuheben, überhaupt alle demokratischen Kontrollmechanismen auszuschalten und zugleich den politischen Diskurs zu monopolisieren.
Früher seien Demokratie und autoritäre Herrschaft Gegensätze gewesen, notiert die Philosophin Isolde Charim. Heute hätten wir eine Hybridform wie die „illiberale Demokratie“, die Wahlen und Parlament mit autoritären Praktiken verbinde. Die Selbstdeklaration als Demokratie sei dabei irreführend, eine Mogelpackung. Denn formal demokratische Verfahren wie Wahlen reichten nicht aus, um Demokratie als politische Form zu sichern. Zentral sei vielmehr der Umgang mit der Machtfülle. „Demokratie im republikanischen Sinn bedeutet eine institutionelle Einhegung, eine Begrenzung der Macht. Einen festgeschriebenen Verzicht auf Machtfülle. Durch Gewaltenteilung. Durch Grundrechte. Ein System von gegenseitigen Beschränkungen, die die Demokratie vor sich selbst schützen.“
Der amerikanische Publizist Fareed Zakaria hat schon in den 1990er-Jahren konstatiert, dass die „illiberale Demokratie“offenbar eine „Wachstumsindustrie“sei. Einerseits hatte die Demokratie Hochkonjunktur – durch den Sturz vieler Militärregime in Lateinamerika und durch die Wende von 1989, als in Ostmitteleuropa kommunistische Diktaturen von demokratischen Regierungen abgelöst wurden. Andererseits zeigte sich weltweit das Phänomen, dass demokratisch gewählte oder sogar wiedergewählte Regierungen regelmäßig die ihnen von der Verfassung gesetzten Grenzen der Macht missachteten und die Bürger ihrer Rechte und Freiheiten beraubten.
Das war im Widerspruch zu der im Westen lange Zeit verfochtenen Vorstellung einer liberalen Demokratie. Dieser Begriff meinte ein politisches System, das durch freie und faire Wahlen gekennzeichnet war, aber auch durch Mehrparteiensystem, Herrschaft des Rechts (rule of law), Gewaltenteilung und Schutz von Grundfreiheiten wie dem Recht auf Meinungs- oder Versammlungsfreiheit.
Gewiss lässt sich argumentieren, dass Demokratie zuallererst Herrschaft des Volkes bedeutet. Der amerikanische Politikforscher Samuel P. Huntington hob das Prinzip der Volkssouveränität hervor: „Wahlen – offen, frei und fair – sind die Essenz der Demokratie, die unausweichliche Conditio sine qua non.“Tatsächlich ist eine demokratische Wahl vor allem ein Akt der Freiheit. Davon zeugen Wähler, die stolz ihre von der Stimmabgabe gefärbten Finger zeigen, ob in Afghanistan oder im Irak, froh über das Ende einer Despoten- oder Terrorherrschaft. Aber fast jedes Mal stellt sich heraus, dass eine solche Stimmabgabe allein noch keine stabilen demokratischen Verhältnisse schafft. Dazu bedarf es auch einer demokratischen politischen Kultur, die dafür sorgt, dass die siegreiche Mehrheit die Rechte der Minderheit gelten lässt.
„Illiberale Demokraten“wie Premier Orbán in Ungarn oder Präsident Erdoğan in der Türkei betrachten einen Wahlsieg nicht als einen in der Demokratie üblichen Machtwechsel, sondern als eine Möglichkeit, die ganze staatliche Macht in Besitz zu nehmen und zu zementieren. Man besetzt daher Schlüsselpositionen im Staat mit Gefolgsleuten und stattet diese mit möglichst langen Amtszeiten aus. Man gibt normalen Gesetzesakten Verfassungsrang, damit sie Einsprüchen von Richtern enthoben sind und nur von einer großen parlamentarischen Mehrheit revidiert werden können. Man schreibt die Verfassung neu.
Das Ganze geschieht mit dem Anspruch, dass nur man selbst Vertreter des „wahren Volkswillens“sei. Doch in der Demokratie tritt das Volk, wie der Philosoph Jürgen Habermas bemerkt, „nur im Plural“auf. Eine „illiberale Demokratie“ist damit nicht nur illiberal, sondern auch undemokratisch. Die richtige Bezeichnung dafür lautet also: Autokratie, Alleinherrschaft.