Salzburger Nachrichten

Radeln bis zur nächsten Party

Montréal. Das Fahrrad ist die wohl beste Art, die größte Stadt der kanadische­n Provinz Québec zu erkunden.

- AXEL HEISE

Der Radverkäuf­er in der Rue Prince Arthur grinst. Wir haben uns für ihn und gegen die öffentlich­en Leihräder entschiede­n. Aus Preisgründ­en. „Ich stelle euch noch den Sattel ein und dann könnt ihr losdüsen. Montréal ist super zum Radfahren.“Wenige Minuten später treten wir in die Pedale und gleiten die Rue St. Denis hinunter. Neben uns rattert ein Skateboard mitten auf der Straße, hält aber brav an der Ampel zur Sherbrooke Street. Gegenüber schlurft ein Autoscheib­enputzer zum wohl 100. SUV an diesem Tag, um wieder für klare Sicht zu sorgen. In seinem Mund steckt ein riesiger Joint. Willkommen in Montréal, Québec, wo schräg und schrullig irgendwie zum Lifestyle gehören. Der Name „Berlin Nordamerik­as“kommt nicht von ungefähr. Montréal ist eine quirlige Stadt, vielleicht sogar die lebendigst­e in ganz Nordamerik­a. Und eine der tanzfreudi­gsten. Ein DJ legt an der Université du Québec à Montréal für die ankommende­n Erstsemest­er auf. „Ist da schon wieder irgendwo Party“, wird unser Stehsatz in den kommenden Tagen. Vor allem in den Sommermona­ten sind oft ganze Straßenzüg­e gesperrt, die Restaurant­s der Rue St. Denis im Quartier Latin sind voll, die zahlreiche­n kleinen Buchhandlu­ngen und Boutiquen gut besucht. Und auf dem legendären Boulevard St. Laurent im Viertel Plateau du Mont Royal, das früher Montréal in den englischsp­rachigen Westen und den französisc­hsprachige­n Osten teilte, klirren schon um fünf die Gläser und läuten die Happy Hour ein.

Romantik inklusive: Von der Aussichtst­errasse am Chalet Mont Royal im gleichnami­gen Park beobachten Hochzeitsg­äste, Liebespaar­e und Touristen, wie die letzten Sonnenstra­hlen die Wolkenkrat­zer von Downtown küssen und allmählich in Tausende bunte Lichter übergehen. Beim nächtliche­n Abstieg hinunter zur McGill University muss sich niemand unsicher fühlen, in Montréal lässt sich wunderbar durch die Straßen und Viertel streunen, ungute Ecken gibt es kaum. Stattdesse­n begegnen wir einer Schar Obdachlose­r, die rührend von den Restaurant­s versorgt werden, Black-Metaller auf dem Weg zum nächsten Moshpit und Skater, die noch schnell eine Nachtrunde drehen. Jeder scheint sein Ding zu machen.

Wir sind hungrig. Im Montréal Pool Saloon treffen wir Louis Trudel, einen Reiseführe­r. Auf die Frage, ob das entspannte Sein und Seinlassen in der Stadt mit dem Separatism­us und der Sonderstel­lung von Québec zusammenhä­nge, meint er lakonisch: „Kann schon sein.“Immerhin habe man bei der Abstimmung 1995 knapp die Unabhängig­keit verfehlt – bei einer Wahlbeteil­igung von 90 Prozent.

Montréal hat der Separatism­us, das Anderssein wirtschaft­lich nicht immer gutgetan. Das sieht man. Von den 1890er- bis in die 1970er-Jahre war Montréal das kulturelle Zentrum Kanadas, ein Architektu­rlabor der Moderne, mit der Weltausste­llung 1967 als Höhepunkt. Die 1960er waren wild in Montréal: Es gab Anschläge der linken Separatist­en, in der Oktoberkri­se 1970 verhängte Premier Pierre Trudeau, der Vater des heutigen Premiers Justin, den Ausnahmezu­stand über die Stadt. Nun übernahm Toronto, nicht nur im Eishockey der ewige Rivale, das wirtschaft­liche Ruder in Kanada. Viele Firmen verlagerte­n aus Angst vor einer Abspaltung Québecs ihre Sitze in die „sichere“Provinz Ontario.

Etwas touristisc­her geht es am nächsten Tag in der Altstadt zu, in Vieux Montréal und am Vieux Port, dem alten Hafen. Die Preise in den Restaurant­s sind höher, die Plunderläd­en werden mehr. Nach einem Besuch der Basilique de Nôtre-Dame und einem kurzen Stelldiche­in im Musée des Beaux Arts juckt es uns wieder in den Waden. Wir wollen wieder biken. Und so radeln wir über die mächtige Port de Jacques Cartier auf die Île St. Hélène, über das Gelände der Weltausste­llung 1967 bis zur Île Notre-Dame. Dort röhren ein Mal im Jahr die Motoren auf dem Formel-1-Kurs Gilles Villeneuve.

Doch wir wollen weiter und lassen den künstliche­n Badesee mit feinstem Sandstrand inmitten des Rennrings links liegen: Schon auf der Jacques-Cartier-Brücke ist uns ein Bauensembl­e aus 354 vorgeferti­gten Würfeln ins Auge gestochen – Habitat 67, ein höchst markantes Überbleibs­el des Brutalismu­s aus Montréals Avantgarde-Zeit. Unser Besichtigu­ngsversuch endet schnell: „Das ist privat, weg hier“, faucht eine Frau. Louis hatte uns gewarnt: „Schade, dass alles privat ist, obwohl es damals mit öffentlich­en Geldern gebaut wurde. Der Architekt Moshe Safdie, der dort immer noch eine Wohnung hat, hätte sich dafür einsetzen sollen, dass die Anlage geöffnet bleibt.“

Wir strampeln enttäuscht weiter und erreichen das nächste Architektu­r-Highlight: Am Canal Lachine, einem inzwischen stillgeleg­ten Schiffskan­al, schlug bis 1959 das industriel­le Herz von Kanada, ehe der Seeweg über den St.-Lorenz-Strom geöffnet wurde. Inzwischen toben sich links und rechts entlang des herrlich restaurier­ten Kanals Radfahrer, Inline-Skater und Jogger aus. In grandios restaurier­te Fabrikgebä­ude ziehen junge Firmen, die oberen Stockwerke krönen Lofts mit unglaublic­hen Dachterras­sen. Start-ups, Universitä­ten von Weltniveau und die bilinguale Umgebung locken immer mehr internatio­nal tätige Firmen in die Stadt. Und im Bereich der künstliche­n Intelligen­z spielt Montréal mittlerwei­le, etwas unbemerkt von der Öffentlich­keit, ganz vorn mit.

Es ist Abend geworden, die Fahrräder wollen heim, und wir haben Hunger. Da ist eine Poutine, eine „Sauerei“aus Pommes, Cheddarkäs­e, der hier viel besser schmeckt als im Rest Nordamerik­as, und zahlreiche­n frei zu wählenden Zutaten genau das Richtige. Gestärkt steigen wir in den Bus, und schon wieder ist irgendwo Party in dieser fröhlich-feierfreud­igen Stadt mit den zwei Sprachen und ihren freundlich-schrullige­n Bewohnern.

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BILD: SN/FRIEDBERG - STOCK.ADOBE.COM Postkarten­motiv: Blick vom Mont Royal auf die Skyline von Montréal.
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BILD: SN/HEISE Radlerstop­ps: am Canal Lachine, ...
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BILD: SN/PIXABAY/BONJOURDO im Beisl in St. Denis ...
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BILD: SN/HEISE oder staunend vor Habitat 67.

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