Sie fliehen vor der Angst
Geschichte verschwindet nicht. Sie sackt nicht ab in die Tiefen des Unwiederbringlichen, wo sie nichts mehr zu melden hat. Ihre Wirkung reicht in Gegenwart und Zukunft späterer Generationen, die mit den Sünden, Nachlässigkeiten und Verbrechen ihrer Vorfahren beschäftigt sind. Wenn schon im Augenblick eine unbekümmerte Politikerriege notorischer Geschichtsverweigerer am Regieren ist, bedarf es umso mehr einer Zivilgesellschaft, die die notwendige Erinnerungsarbeit am Leben hält. Die Schriftstellerin Anna Seghers bietet sich an als Auskunftsperson zum Thema Flucht, Vertreibung und Emigration. Im Dritten Reich war sie als Jüdin und politische Autorin, die ihre Sympathien für Sozialismus und Kommunismus öffentlich machte, verfemt. Sie geriet kurzzeitig in Haft, ihre Bücher wurden verboten und verbrannt. Ihr gelang die Flucht in die Schweiz, um nach mehreren Stationen in Mexiko sesshaft zu werden. 1950 kehrte sie zurück und siedelte sich in Ostberlin an. Ihr Ruf als moralische Größe der DDR-Literatur mit internationaler Ausstrahlung war unangefochten.
Sie ist keine Größe aus längst verstrichenen Zeiten. Dass ihr Werk in uns nach wie vor das Feuer eines inneren Aufruhrs zu erzeugen vermag, erkennt man schon daran, dass Christian Petzold den Roman „Transit“aus dem Jahr 1944 verfilmt hat. Er hält sich eng an die Vorlage und macht doch ein verstörendes Werk daraus, indem er es dank der Bildsprache unmittelbar in unsere Zeit transformiert. Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie kennt Konstanten, die in immer neuen Variationen des Unglücks durchgespielt werden.
Bei Seghers flieht ein Deutscher vor den Nazis nach Frankreich, in Petzolds Film befinden wir uns in der Gegenwart eines besetzten Frankreichs, in der Menschenjagd schon wieder auf der Tagesordnung steht. ist jemand, der den neuen Machthabern nicht zu Gesicht steht und sein eigenes wie das gerade besetzte Land verlassen muss. Eine Zeitverschiebung findet statt, und in der zugespitzten Gegenwart sind schon wieder die Unangepassten auf der Flucht. Georg, auf den sich die Geschichte konzentriert, befindet sich in einem Transitbereich, weil seine Vergangenheit im Dunkeln bleibt und die Zukunft vollkommen ungewiss ist. Mit den Papieren eines verstorbenen Freundes nimmt er dessen Identität an, um die Chance auf einen Passierschein nach Übersee zu halten.
Es bedarf nicht Petzolds Aktualisierungen, um zu kapieren, dass Literatur, die ernst genommen werden will, über den unmittelbaren Erscheinungstermin hinausweist. Seghers’ Lektüre vermittelt nie allein einen Eindruck vom Leben und Überleben in Zeiten der politischen Cholera, sie immunisiert gegen die Verführungen der Macht. Verwunderlich, dass eine derart kritische Persönlichkeit nie auf Distanz zur DDR ging, sondern dem Staat sogar huldigte. Sie lieferte Bekenntnisliteratur, die von ihr niemand zu verlangen gewagt hätte.
Mit Büchern wie „Das siebte Kreuz“und „Transit“hatte sie Hauptstücke antifaschistischer Literatur von dauerhafter Gültigkeit abgeliefert, die sie für den Staat unabkömmlich werden ließen. Mit Büchern wie „Die Entscheidung“(1959) und „Das Vertrauen“(1968) hatte sie sich mit der platten Art, den Ost-West-Konflikt abzuhandeln, aus der Riege der ernsthaften Autoren herausgeschrieben. Die DDR ist gut, die BRD ist schlecht, solch eine Schematisierung leistete sich Seghers, die Gedankenarbeit schmerzlich vermissen ließ. Wenn Flucht jetzt noch eine Rolle spielte, dann betraf sie DDR-Bürger, die in den Westen strebten. Damit gehörten sie automatisch zu den Bösen. Vasko ist ein Individualist. Er hasst die Paraden, die Aufmärsche, die Versammlungen. Widerwärtig ist ihm das von oben kommandierte Leben. Er wünscht sich weg von diesem Land. Er will die Flucht, „damit unser Leben besser wird“. Das ist der erzählerische Höhepunkt in Ilija Trojanows Debütroman „Die Welt ist groß und Rettung lauert überall“. Es ist ein vielschichtiges, verschachteltes Buch, in dem der Autor Auslassungen und Zuspitzungen als darstellerische Mittel einsetzt. Die Flucht einer Familie aus einem diktatorisch regierten Balkanland steht im Zentrum des Textes. Natürlich reflektiert der Schriftsteller dabei eigene, autobiografische Erfahrungen. Trojanow, 1965 in Bulgariens Hauptstadt Sofia geboren, ist 1971 über Jugoslawien und Italien nach Deutschland geflohen, wo seine Familie politisches Asyl erhalten hat. Sein erster Roman von 1996 vergegenwärtigt schon konturenscharf das ganze Drama von Flucht, Vertreibung und Migration, das Europa in diesen Tagen bewegt. Vaskos Familie muss die schwerste aller Grenzen überwinden, „die „Eiserne“, also den Eisernen Vorhang. Doch in der Ferne, weit im Westen, lockt „das Gelobte“, das heißt das Gelobte Land. Es gibt den Faktor, der diese Menschen wegstößt von ihrem Herkunftsland, aber auch jenen, der sie anzieht anderswo. Mit großen, staunenden Augen blickt Vaskos Familie in Triest auf die goldene Seite des Westens. Auf den Straßen sind fröhliche Menschen ohne Sorgen, die Geld zum Vergnügen und Zeit zum Müßiggang haben. Denen geht’s gut. Aber das ist eine illusionäre Sicht auf die Dinge. Zwischen dem Traum vom erhofften neuen Leben und der Wirklichkeit tut sich eine große Kluft auf, wofür der Autor poetiGeorg sche Bilder findet. Italien bedeutet für Vasko, Jana und Alex zunächst das Flüchtlingslager Pelferino, gefüllt mit Angehörigen verschiedener Nationalitäten des Ostblocks, aber auch mit Arabern, die nur auf Streit aus sind.
Unzufriedenheit macht sich im Lager breit. Die Flüchtlinge fordern besseres Essen, Sprachkurse und vor allem eine schnellere Bearbeitung der Asylanträge. Dabei gilt Pelferino nur als „Durchgangslager“. Viele Vertriebene sind darauf bedacht, ihre Fluchtgründe darzulegen, damit sie anderswo Asyl erhalten. Denn nicht alle Gebiete des Gelobten Westens sind gleichermaßen begehrt.
Zwei Mal bezieht der Autor in essayistischen Einschüben politisch Position. An der einen Stelle verteidigt er das Recht auf Asyl als letzte Zuflucht für Verfolgte. Die Hilfe, die sie Bedrängten zukommen ließen, trenne die Zivilisierten von den Barbaren, heißt es. An der anderen Stelle vergleicht der Autor den Exilanten mit einem Passagier, der in einem Zug auf dem Abstellgleis sitzt. Die Hoffnung auf eine Rückkehr in die Heimat treibe einen solchen Menschen an, oftmals vergebens.
Diese Reflexionen führen folgerichtig zu Trojanows neuem essayistischen Band „Nach der Flucht“(2017). Der Autor schreibt jetzt in einer Situation, in welcher die Flüchtlingsfrage zu einem komplexen Weltproblem geworden ist.
In dem Buch versammelt Trojanow Sentenzen und Szenen, die die zwiespältige Bewusstseinslage von Geflüchteten klarmachen sollen. Ihr Sehnsuchtsziel ist es, in der neuen Gesellschaft anzukommen, aber immer wieder werden sie von den Hiesigen zurückgestoßen. Die Weggegangenen haben sich längst losgesagt vom Land der Herkunft. Aber das Geschehene bleibt in ihnen präsent. Die Flucht wirkt fort, so Trojanow, ein Leben lang.
Gelegentlich begegnet der Flüchtling Menschen, die Angst vor ihm haben, und er muss erklären: „Aber ich bin doch derjenige, der Angst hat. Ich bin vor einer Angst geflohen, der man nicht entkommen kann. Ich bin derjenige, der alles verloren hat. Ich bin allem schutzlos ausgeliefert.“
Anna Seghers. Die besten Bücher der DDR-Schriftstellerin Anna Seghers (1900-1983) erzählen von einer Welt, in der das Exil zum Fluchtpunkt der Anständigen wird. Mit ihrem Roman „Transit“von 1944 stellte sie die prekäre Situation von Flüchtlingen so überzeugend dar, dass wir ihn nicht allein als fernes, historisches Dokument nehmen wollen. ANTON THUSWALDNER
Ilija Trojanow. Zelte, Baracken, Auffanglager: So haben sich viele Flüchtlinge das Gelobte Land nicht vorgestellt. Behördengänge, Warteschleifen, Leerläufe: Aber das ist die Realität für immer mehr Vertriebene. Der Schriftsteller Ilija Trojanow möchte für die Entwurzelten Verständnis wecken. HELMUT L. MÜLLER