„Bernstein gab mir viel Kraft“
Krystian Zimerman erinnert sich an einen großen Dirigenten, Komponisten, Menschen.
Meisterpianist Krystian Zimerman macht sich rar. Er gibt nicht mehr als 50 Konzerte pro Jahr und schert sich wenig um den Klassikbetrieb. Wenn es um Leonard Bernstein geht, öffnet sich der Weltbürger polnischer Herkunft. Am 24. August erscheint eine Neueinspielung der Zweiten Symphonie (Deutsche Grammophon), am Montagabend gestaltete Zimerman den Solopart im Großen Festspielhaus. Danach fand der 61-Jährige Zeit für ein Gespräch über Bernstein. SN: Herr Zimerman, Leonard Bernstein hätte heuer seinen 100. Geburtstag gefeiert. Was fasziniert Sie an diesem großen Künstler am meisten? Zimerman: Seine Glaubwürdigkeit als Interpret. Er war immer ein ehrlicher Musiker, konnte gar nicht anders. Er hat aber auch die Verantwortung wahrgenommen, sich als Mensch einzuschalten. Gefiel ihm etwas nicht, dann brachte er seine Kritik zum Ausdruck. „I opened my big mouth“, wie er zu sagen pflegte. SN: Wann hat Ihre künstlerische Zusammenarbeit begonnen? Ich traf Bernstein zuerst in Wien – bei einer Probe, die für immer in mein Gehirn eingebrannt ist. Er dirigierte Mahlers Sechste mit den Wiener Philharmonikern. Das hat mich vom Hocker geworfen. Danach durfte ich ihm vorspielen. „Ich habe eine Aufführung von Strawinskys ,Les Noces‘ und ich möchte, dass du dabei bist“, sagte er. Bernstein gab mir Kraft, Wege zum Ausdruck zu finden, ohne etwas an der Intention des Komponisten zu verändern. Sich das Recht einzuräumen, als Künstler man selbst zu sein, das vermittelte er mir. SN: Wir sitzen jetzt im Karajan-Raum des Hotels Goldener Hirsch. Sie arbeiteten ja mit beiden Dirigenten zusammen. Ich war vielleicht der einzige Künstler, der das durfte (lacht). Sie hatten ja diametral unterschiedliche Zugänge zur Musik. Ich hörte aber von keinem der beiden je ein schlechtes Wort über den anderen. SN: Was war das Gegensätzliche bei Karajan und Bernstein? Das kann ich anhand einer Beobachtung erklären. Es handelt sich um Brahms’ Erstes Klavierkonzert, das Horn kommt zu spät. Karajan wiederholt die Stelle und beginnt asymmetrisch zu dirigieren. Der Hornist spielt plötzlich richtig, alles ist in Ordnung. Bernstein dirigiert die gleiche Stelle. Wieder kommt das Horn zu spät. Bernstein dreht sich um zu mir und sagt: „Baby, can’t you play later? The horn is too late.“Er gab mir zu verstehen, dass ich dem Hornisten die Zeit geben muss, um zu atmen. Die Musik ist so genial. Es gibt so viele Arten, sie zu interpretieren, dass es das ultimativ Richtige nicht gibt. Bernstein hat jedes Werk so gespielt, als ob er es gerade selbst komponiert hätte. Er wurde in dem Moment zu Schumann oder Mahler. Das war phänomenal. SN: Und der Mensch Bernstein? Er war extrovertiert. Das habe ich sehr bewundert. Wenn ich nach einem Konzert mit Besuchern zusammentreffe, suche ich immer die dunkelste Stelle im Raum. Er dagegen knallte geradewegs in die Mitte hinein, hat jeden begrüßt. Also: Chapeau! Er hatte einfach große Freude am Kontakt mit Menschen. SN: Wie war die Arbeit mit ihm an einem seiner eigenen Werke, der Zweiten Symphonie? Ein Komponist hat immer Probleme, wenn er ein eigenes Stück dirigiert. Das war bei Lutosławski nicht anders. Dazu kam für Bernstein das Problem, dass die Zweite Symphonie nach ihrer Uraufführung 1949 verrissen wurde. Das hat ihn sehr verletzt. Während einer Tour fragte er mich, ob ich seine Musik kenne. Da sagte ich ihm, dass ich dieses Werk bereits aufgeführt habe. Er hat sofort ein Konzert mit dem London Symphony Orchestra gebucht und bereits ein Jahr später, 1986, spielten wir die Symphonie.
Wir haben das Werk gelebt. Jede Aufführung war anders. Am Jahrestag der Ermordung Kennedys begann er in halbem Tempo. Die Ehrlichkeit der Aussage hatte stets erste Priorität. SN: Derzeit spielen Sie die Zweite Symphonie wieder, haben Sie mit Simon Rattle sogar aufgenommen. Wie geht es Ihnen damit? Bernstein hat mich einmal gefragt: Spielst du die Zweite Symphonie, wenn ich 100 bin? Natürlich sagte ich zu. Ich habe mir das Werk jetzt noch einmal erarbeitet; auch, um einem Menschen meine Dankbarkeit zu zeigen, der mir so viel gegeben hat.
Es sind rührende Momente in diesem Stück, wo ich Tränen in den Augen habe und mich an eine Zeit der großen Maestri erinnere, die ich alle in Salzburg kennengelernt habe und die es heute nicht mehr gibt. Eine ganze Ära ist mit Karajans und Bernsteins Tod zu Ende gegangen. SN: Worum geht es Ihnen selbst in der Musik jetzt noch? Musik ist mein Leben. Karriere hat mich nie interessiert. Ich habe ja als kleiner Junge Orgel gespielt. Später bin ich in den Flügel katapultiert worden, habe einen Wettbewerb gewonnen, dann einen zweiten, dann einen dritten. 1977 hat mich Karajan nach Salzburg eingeladen, dann gab es keinen Weg mehr zurück. Ich habe aber immer wieder Sabbaticals eingelegt.
Heute habe ich diese Freiheit, zu spielen, wo ich will. Aus der ganzen Welt kommen die Angebote. Das Problem ist: Die Welt ist sehr groß. Daher komme ich nur alle drei, vier Jahre in eine Stadt zurück. Ich sehe mich als einen pensionierten Künstler, der noch ein bisschen Spaß hat und seine Dankbarkeit gegenüber den alten Meistern zeigt. Das ist eigentlich alles.