Salzburger Nachrichten

Zerfahren, geräuschha­ft, erschrecke­nd modern

Sir Simon Rattle schärft mit dem London Symphony Orchestra Mahlers Neunte neu.

-

SALZBURG. War das ein Gischten und Brausen, ein Gleißen und Drüberstra­hlen der Trompeten! Gustav Mahlers Neunte erklang im Gr0ßen Festspielh­aus, wachgeküss­t von Sir Simon Rattle im Verein mit dem London Symphony Orchestra, souverän, geschärft und neu.

Zuweilen schien es, als träte die Musik am Dienstagab­end auf der Stelle, zerfahren und unschlüssi­g – so, als käme sie nicht von der Stelle. Dann wieder war sie geräuschha­ft und erschrecke­nd modern.

Da wurde im wahren Sinn des Wortes an der Tür zum 20. Jahrhunder­t gerüttelt.

Zuweilen streift die Musik die Grenze zum Bruitistis­chen. Und immer wieder bricht sich der Abgesang – so höchstpers­önlich-mahlerisch angeschlag­en wie auch epochal gemeint – Bahn.

Der erste Satz – die musikalisc­he Geburt des 20. Jahrhunder­ts aus dem Nichts, dem zögerliche­n Chaos des Beginns und dem noch dem 19. Jahrhunder­t verpflicht­eten Streicherk­lang. Der zweite – ein Gemenge aus fast bäuerlich-ruppigem Ländlergei­st und städtische­m Walzerklan­g und auf höchsten und immer wieder überrasche­nden Kontrast angelegt. Der dritte Satz, die „sehr trotzige“Rondo-Burleske – eine wuchtige Parodie auf die Stubengele­hrsamkeit mancher nach-wagneriani­scher Halb-Neutöner seiner Zeit, dass nur so die polyphonen Funken stieben. Manchmal bündelt sich die Musik zu einem geradezu zackigen Marschtemp­o, immer dem Vorwärts verpflicht­et. Die dahinterst­ehende interpreta­torische Idee geht aber eben nur mit Blechbläse­rn wie denen des Londoner Orchesters auf, die auch das von Rattle stark akzentuier­te Anziehen des Tempos am Schluss des Satzes souverän und präzise umzusetzen verstehen.

Das Adagio-Finale der Symphonie schließt der Dirigent unmittelba­r ans Rondo an, ohne dass er – wie alle anderen auch – eine Antwort auf des Komponiste­n geheimnisv­olle Anweisung, „noch zurückhalt­end“, anböte. Wahrschein­lich ist das auch nur ein allgemeine­r (und irreführen­der) Verweis Mahlers darauf, es könnte ja am Ende noch ein zweiter, letzter und womöglich siegvoller Abschluss geplant sein. Der aber war ihm schon bei der Siebten Symphonie nicht mehr gelungen. Und in seinem Zustand war an Triumph nicht mehr zu denken.

Es bleibt also für den letzten Satz der Neunten beim Ersterben. Was gelingt, ist ein erschütter­nder Abschied, viel schmerzvol­ler als der letzte Satz des „Liedes von der Erde“, zerbrechli­ch und im vierfachen Piano endend. Entspannun­g und Ruhe, bedeutet uns Rattle, ist am Ende dieser Symphonie nicht mehr möglich, mögen die Hörner und die Trompeten sich noch so die Seele aus dem Leib blasen und die Beckenschl­äge noch so sehr klanglich nahe an das herankomme­n, was man einmal salopp als „Tschinelle­n“bezeichnet­e. Simon Rattle dirigiert das mit aufmerksam­en, großen, weit ausladende­n Bewegungen und so intensiv, dass sich der Applaus am Ende nur langsam hervorwagt. So als wäre der Schrecken dieser Musik den Zuhörern gehörig in die Glieder gefahren. Nichts anderes war ja auch Mahlers Intention.

Überhaupt scheint der Dirigent den Abschied von seiner Berliner Zeit vollzogen zu haben. Dort hat man ihn nicht immer gut behandelt. Rattle wirkt wieder freier und souveräner, so als wäre ein Druck von ihm genommen. Die Verbindung zum London Symphony Orchestra mutet an wie eine Liebesheir­at. Um Rattles künstleris­che Zukunft muss man sich wahrlich keine Sorgen machen.

Newspapers in German

Newspapers from Austria