Lebenslang nach Ehrenmord
Da die Schwester aus der strengen afghanischen Familie ausbrechen wollte, hat ihr Bruder sie mit 28 Messerstichen getötet. Doch die Brutalität war nicht das einzige Thema im Prozess.
WIEN. Still sitzt er vor dem Gericht, hat den Kopf gesenkt, den Blick auf den Tisch gerichtet. Nur wenn er angesprochen wird, schaut er beinah schüchtern auf und zupft sein weißes T-Shirt zurecht. Auch die Mutter, die im Saal sitzt und einen weiteren, erst zwölf Jahre alten Sohn mithat, zeigt keine Regung. Ihr Gesicht verbirgt sie hinter Kopftuch, Sonnenbrille und Tageszeitung. Es scheint, als beträfe niemanden von ihnen, was der Staatsanwalt dem Mann aus Afghanistan am Mittwoch am Wiener Straflandesgericht zur Last legt und weswegen das Urteil lebenslänglich lautet.
Doch die Vorwürfe wogen schwer: Der Angeklagte soll am 18. September 2017 seine Schwester mit 28 Stichen und Schnitten in einem Innenhof ermordet haben. Er ist geständig; gleich nach dem Einstechen auf die Schwester mit einem Kampfmesser hat er sich der Polizei gestellt. Laut Gerichtsmediziner Christian Reiter – er nahm die Obduktion der Leiche vor – soll es bei dem Mord zu einem Overkill gekommen sein, bei dem „weit mehr Gewalt angewendet wurde, als es zum Töten gebraucht hätte“. Selbst als die Schwester am Boden lag, soll der Bruder noch mit viel Wut und Energie auf sie eingestochen haben. „Es gab eine Konkurrenz der Todesursachen: Verbluten, Ersticken und Luft im Herz“, zog Reiter Bilanz.
Um das Alter des Täters und des Opfers gab es mehr als eine Stunde Diskussionen. Immerhin ging es darum, ob der Fall an diesem Tag verhandelt oder aber einem Jugendgericht übergeben werden sollte, wie Verteidiger Nikolaus Rast eingangs forderte. Denn der gebürtige Afghane, der erst 19 Jahre alt sein will, gab an, am 1. Jänner 1999 geboren worden zu sein. Damit wäre das Jugendstrafrecht mit milderen Strafen und ohne das Höchsturteil „lebenslänglich“anzuwenden gewesen. „Das Alter haben mir meine Mutter und mein Vater so gesagt“, erklärte er schlicht und wiederholte den Satz mehrmals. So stehe es in seinem österreichischen Konventionspass.
Der vom Gericht beauftragte Gutachter und Anthropologe Fabian Kanz hingegen kam zu der Erkenntnis, dass der Angeklagte zum Tatzeitpunkt jedenfalls älter als 21 Jahre gewesen sein muss. Deshalb ging der Prozess schließlich wie geplant weiter. Auch das Opfer soll – entgegen den Angaben in ihrem Pass – nicht 14, sondern zumindest 17 Jahre oder sogar älter gewesen sein.
Die Motive für die Bluttat blieben vage. Der Angeklagte wollte nicht erneut aussagen. Nur einmal gab er in dem nur vier Stunden dauernden Prozess mehr als Ja- oder Nein-Antworten: „Ich möchte um Verzeihung bitten. Ich habe eine Straftat begangen“, sagte er. Darüber hinaus ließ er verlesen, was er bei der Polizei zu Protokoll gegeben hatte.
Etwa, dass er die Schwester getötet habe, „weil sie Mutter und Vater zum Weinen gebracht hat“. Fest steht: Es ging bei dem Mord um die Ehre der Familie, die 2013 über Pakistan nach Österreich kam und der Asyl gewährt wurde. Diese Ehre soll das spätere Todesopfer befleckt haben. Wodurch? „Sie scheint einen Freund gehabt zu haben, wollte kein Kopftuch tragen, sich nicht an die strengen Familienregeln halten und keinen Mann in Pakistan heiraten. Deshalb ist sie vor dem Vater und ihrem Bruder geflohen. Beide haben sie offenbar geschlagen, eingesperrt und bedroht“, erzählte eine Zeugin, die in jener Kriseninterventionsstelle arbeitet, in der das Mädchen Zuflucht gesucht hat – zuletzt vier Tage vor ihrem Tod. Verteidiger Rast gab zu bedenken, dass auch der Angeklagte daheim Gewalt erfahren habe. Er beschrieb ihn als „Werkzeug“für den Ehrenmord. Ob ihn der Vater angestiftet haben könnte, ließ Rast offen.
Das Urteil der Geschworenen fiel einstimmig aus: Sie befanden den Angeklagten des Mordes für schuldig. Er erhielt lebenslange Haft; das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Selbst als ihm der Ausgang von der Gerichtsdolmetscherin übersetzt wurde, verzog der junge Mann keine Miene. Auch die Mutter und der kleine Bruder zeigten keine Gefühlsregungen.