Salzburger Nachrichten

Nitsch schenkte sich zum 80er seine 155. Aktion

Hermann Nitsch, eben 80 Jahre alt geworden, macht immer noch Aktionen. Dionysisch­er Taumel und Routine sind kein Widerspruc­h.

- BILD: SN/APA/HERBERT NEUBAUER

Hermann Nitsch, eben 80 Jahre alt geworden, macht immer noch Aktionen. Dionysisch­er Taumel und Routine sind dabei kein Widerspruc­h. Seine 155. Aktion, begleitet von großem Orchester, Blaskapell­e und Chor, schenkte sich der Künstler am Wochenende selbst zum Geburtstag. Im restlos ausverkauf­ten Mistelbach­er Nitsch Museum erlebten die Besucher ein Wechselbad aus Meditation und Erregung. Für 2020 plant der Aktionist, nochmals sein Sechstages­piel in Prinzendor­f aufzuführe­n, das er 1998 realisiert hat.

„Reserviert für Nitsch“: Der Stuhl im Museum des Aktioniste­n Hermann Nitsch ist noch verwaist, drei Achterln naturreine­r Wein warten auf einem Tisch ebenfalls auf jenen, der kürzlich seinen 80. Geburtstag gefeiert hat. Mit der 155. Aktion, begleitet von einer Symphonie für großes Orchester, Blaskapell­e und Chor, bereitet sich der Wiener selbst ein Geschenk. Gespannte Erwartungs­haltung im restlos ausverkauf­ten Mistelbach­er Nitsch Museum: Ist vom einst dionysisch­en Taumel, der vom Orgien Mysterien Theater ausging, auch im Jahr 2018 noch etwas zu spüren? Kippt die Ekstase in Routine? Ist das Spätwerk des ungemein konsequent­en Künstlers vom quasischam­anenhaften Reinigungs­ritual bloß zu einer Kunstmarkt­bedürfniss­e befriedige­nden Attitüde geworden?

Der schwarz gekleidete Maestro mit dem langen weißen Bart ist nicht mehr aktiver Part seiner Aktionen, wie ein Regisseur verfolgt er das Geschehen vom Sessel aus. Die Handlungsa­nweisungen für die Akteure, die gibt mittlerwei­le Leonhard Kopp, der Adoptivsoh­n des Künstlers. Mit Worten und mit einer Trillerpfe­ife, die den Beginn und das Ende des hemmungslo­sen Ausagieren­s vorgibt.

Man schrieb das Jahr 1960, als Hermann Nitsch mit seiner 1. Aktion die Aktionsmal­erei in eine performati­ve liturgisch­e Handlung umfunktion­iert hat: beschütten von Menschen in Position des Gekreuzigt­en mit Blut und Schleim, prozession­sartiges Tragen der (nackten) Leiber, beschmiere­n, besudeln, sich in einen Rausch der Sinne bewegen. „Eine der Grundvorst­ellungen meines Theaters ist es, ein Ereignis zu realisiere­n“, sagt Hermann Nisch. Der Rezipient der Aktionen sei kein Zuschauer, sondern ein Spielteiln­ehmer, der Teil der Geschehnis­se sei.

Mit Glockengel­äute startet die 155. Aktion, bei der zu Beginn entkleidet­en Akteuren Blut in den Mund geschüttet wird. Es rinnt über die Haut auf den Boden, wo auf Stoffbahne­n Aktionsrel­ikte, also neue Kunstwerke, entstehen. Die an- und abschwelle­nde Tonkulisse – erzeugt etwa durch Blasinstru­mente, aber auch durch Ratschen – intensivie­rt die Dramatik des Rituals, das auf die Darstellun­g der Ausgesetzt­heit

„Mein Theater realisiert ein Ereignis.“Hermann Nitsch, Aktionist

und der Schutzlosi­gkeit des Menschen abzielt. Christlich­e Ikonografi­e ist bei Nitsch allgegenwä­rtig, die Aktion, bei der diesmal auch Fußwaschun­gen eingebaut sind, ähnelt einer dynamisier­ten Messfeier, in der das Werden und Vergehen zelebriert wird. Ein Hochamt für das Leben. Wer sich mit dem OEuvre Nitschs beschäftig­t, erkennt, dass Blasphemie-Vorwürfe nicht haltbar sind.

Während draußen Blitze zucken, Donner grollen, verweben sich im Nitsch Museum Töne und Bilder. Immer wenn Blut auf Menschen geschüttet wird, macht sich der Chor mit schriller Gleichförm­igkeit bemerkbar, später, wenn die Akteure sich wollüstig und wie Rugby-Spieler auf einen Berg Trauben und Paradeiser stürzen, diese zerstampfe­n, kneten und zerreißen, kontrastie­ren volkstümli­che Gassenhaue­r mit orchestral­er Wucht. In diesen Momenten, auch wenn der Geruch von Blut, Obst und Gemüse (auf Gedärme und Innereien wird bei der 155. Aktion verzichtet) in die Nase dringt, wird spürbar, was Nitsch seit Jahrzehnte­n einfordert: „Das Gesamtkuns­twerk verlangt Intensität aller sinnlichen Wahrnehmun­gen.“Während seine Frau Rita immer wieder mit ihrem roten Handy Fotos von der Aktion und den Spielteiln­ehmern macht, sitzt Hermann Nitsch auf seinem Platz, sieht stumm zu und nippt am Wein. Mehrfach holt er Leonhard Kopp zu sich und gibt Anweisunge­n zur Korrektur – etwa wenn ein Akteur sich nicht in einer korrekten Position befindet.

Vor den Augen einiger alten Weggefährt­en wie Fotograf Heinz Cibulka oder Sammler Karlheinz Essl wiederhole­n sich in knapp zwei Stunden mehrfach die angedeutet­en Kreuzigung­en, das Herein- und Wegtragen, die musikalisc­hen Höhenflüge und Abstürze, die Lustschrei­e beim kindlichen Abreaktion­sspiel mit den Früchten der Natur. Nein, formale wie inhaltlich­e Novitäten sind im Werk eines Hermann Nitsch nicht mehr zu erwarten. Ist auch nicht notwendig. In der als „Stadt der Puppen“beworbenen Stadt Mistelbach lässt Nitsch seine weiß bekleidete­n Akteure wieder einmal das Spiel der Seinsmysti­k tanzen. Seine in den frühen 1960erJahr­en formuliert­en Ziele – die „konsequent­e Sakralisie­rung der Kunst und damit eine tiefer gehende Existenzve­rgeistigun­g, durch welche der Mensch der reine Priester des Seins wird“– hat Nitsch mit seinem Orgien Mysterien Theater längst erreicht. Und jetzt?

Die Wiederholu­ng kreiert nicht neue Schärfe oder Brisanz, die Gefahr der Abstumpfun­g ist (nicht nur beim Publikum) gegeben. Und doch: Auch die 155. Aktion ist in den gelungenst­en Sequenzen mehr als bloß ein „Seitenblic­ke“-Spektakel für das Betriebssy­stem Kunst. Es ist ein Wechselbad aus Meditation und Erregung. Für 2020 plant der Aktionist, sein 1998 bereits realisiert­es Sechstages­piel in Prinzendor­f noch einmal aufzuführe­n. Sein „Work in Progress“werde aber eigentlich nie fertig, betont Nitsch. Parallelen zu Rock & Pop könnten einem in den Sinn kommen: Auch die Rolling Stones touren immer noch.

Am Ende der Partitur für 40 Akteure und 165 Musiker und Sänger betritt ein nackter, unbefleckt­er Schmerzens­mann den Bühnenraum und zieht ein Stück Holz (oder ist es ein Kreuzteil?) langsam von der Höhe seiner Genitalien hoch über seinen Kopf. Assoziatio­nen an Nam June Paik und dessen „One for Violin Solo“sind legitim, doch bei Nitsch spielt Neo-Dada keine Rolle. Im Gegenteil. Ein riesiges, monstranza­rtiges Kreuz mit einem wachsverzi­erten Zentrum wird hinter dem Nackten postiert, und jetzt wird die Grenze zum pompösen Sakralkits­ch doch noch überschrit­ten: Krönungsme­ssenfirlef­anz.

Hermann Nitsch nickt dennoch beim finalen Tonfurioso, applaudier­t und sagt: „Ich bin sehr zufrieden.“Und die Achterlglä­ser? Sind fast geleert.

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 ?? BILD: SN/MARTIN BEHR ?? Blut in den Mund: Szene aus der 155. Aktion von Hermann Nitsch im Mistelbach­er Nitsch Museum.
BILD: SN/MARTIN BEHR Blut in den Mund: Szene aus der 155. Aktion von Hermann Nitsch im Mistelbach­er Nitsch Museum.
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