Ein „guter Diktator“? Lieber nicht.
Warum verschmutzte Gehsteige und Graffiti an den Wänden Zeichen einer funktionierenden Demokratie sein können.
Blitzsauber ist ein Hilfsausdruck. Wer durch die Straßen des südostasiatischen Stadtstaats Singapur fährt, wird mit den Schattenseiten unserer Zivilisation nicht belästigt. Kein Müll, wenig Kriminalität, propere Gehsteige, emsige Bürger. Die Regierung weiß entschieden, was sie will, und setzt diesen Willen ohne Behelligung durch lästige Verfahren flugs um, ob es sich um einen Flughafenausbau handelt oder um die Errichtung einer Universität, die binnen Jahrzehnten auf Weltniveau gepusht wird.
Dieser Anschein eines klinisch sauberen Paradieses muss nicht nur Begeisterung auslösen. Denn das Paradies wird mit strenger Hand regiert. Einen Kaugummi auszuspucken ist ebenso wenig anzuraten, wie eine Zigarette zu rauchen (oder gar sie wegzuwerfen) oder irgendeine sonstige Ordnungswidrigkeit zu begehen. Gleichgeschlechtliche Beziehungen sind verboten. Die Geldstrafen sind hoch. Für gravierendere Vergehen setzt es sogar die Prügelstrafe. Kurzum: Die Abwesenheit von hässlichen Graffiti, verschmutzten Gehsteigen oder Bettlern auf den Straßen wird durch eine Einschränkung der individuellen Freiheit teuer erkauft.
Europa geht seit seinem Wiedererstehen aus den Ruinen des Zweiten Weltkriegs einen anderen Weg, und das mit gutem Grund. Unser Kontinent hatte seine autoritäre Phase im ersten Drittel des vergangenen Jahrhunderts, und die Sache ist fatal ausgegangen. Etliche europäische Staaten, darunter Österreich, verwarfen damals die Demokratie (oder führten sie nie ein) zugunsten eines starken Mannes. In Österreich führte diese Phase zur Ausschaltung des Parlaments, zum Bürgerkrieg, zum Verbot der Sozialdemokratie, zu Todesstrafen gegen politische Gegner. Am Ende zerbrach dieses System, es glitt nahtlos in den Nazi-Totalitarismus, der seine Untertanen mit nie da gewesener Brutalität terrorisierte, Europa in den blutigsten Krieg seiner Geschichte stürzte und einen Völkermord an den Juden vollführte. Man darf annehmen, dass ein demokratisches Österreich, ein demokratisches Europa eine stärkere Immunität gegen den Nazi-Ungeist entwickelt hätte, als es den damaligen autoritären Regimen quer durch Europa gelang.
Es ist also seiner geschichtlichen Erfahrung geschuldet, wenn Europa nach 1945 einer übertriebenen staatlichen Autorität abgeschworen hat. Europa nimmt Graffiti an den Wänden ebenso in Kauf wie Bettler auf den Straßen, es nimmt überlange Behördenverfahren bei Infrastrukturprojekten ebenso in Kauf wie Studenten, die das studieren, was sie interessiert, und nicht das, was die Wirtschaft wünscht. Europa verzichtet auf KommandoWissenschaft an den Universitäten ebenso wie auf Wissensdrill in den Schulen. In Europa können die Bürger mit der Staatsgewalt annähernd auf Augenhöhe kommunizieren. Jeder kann sein Leben und seinen Lebensstil frei wählen. Jeder kann frei seine Meinung äußern. Das mag Reibungsverluste mit sich bringen, wie jeder weiß, der eine Startbahn in Schwechat oder eine Stromleitung in Salzburg bauen will. Es ist aber auf Dauer das bessere, stabilere, menschengerechtere System, selbst wenn es zu Unsinnigkeiten führt wie jener, die Kollege Viktor Hermann auf dieser Seite schildert.
Doch die Stabilität dieses menschengerechten Systems wird gefährdet, wenn die Menschen diesem System nicht mehr vertrauen. Diesbezüglich gibt es beunruhigende Anzeichen. Quer durch Europa gewinnen politische Parteien an Zuspruch, die nicht dem traditionellen gesellschaftlichen Ausgleich huldigen, sondern der Polarisierung das Wort reden: gegen Andersdenkende, Andersgläubige, anders Aussehende. In etlichen Ländern sind diese Parteien bereits an der Regierung beteiligt. Auch in der öffentlichen Meinung sind antidemokratische Tendenzen zu spüren. Wer, wie weite Teile der hiesigen Boulevardpresse, den russischen Despoten Wladimir Putin als pittoresk-harmlosen walzertanzenden Steppenfürsten inszeniert, während der immerhin demokratisch gewählte Donald Trump für jede seiner Lebensäußerungen in Grund und Boden skandalisiert wird, hat nicht wirklich begriffen, worum es in einer Demokratie geht. Das Gleiche gilt für jene gar nicht so wenigen Mitbürger, die in einschlägigen Umfragen sagen, ein starker Führer solle, abgehoben vom Parteienstreit, das Land regieren. Dieser Auffassung liegt die Fehleinschätzung zugrunde, dass es so etwas wie einen „guten Diktator“geben kann. Gibt es aber nicht. Jeder „gute Diktator“trägt den Keim zum blutigen Despoten in sich.
Die Demokratie tut also gut daran, das Vertrauen ihrer Bewohner nicht zu gefährden. Sie tut gut daran, die Ängste der Menschen vor Armut im Alter, vor der Zerstörung der Umwelt, vor einer ungeregelten Zuwanderung ernst zu nehmen. Sie tut gut daran, Kriminalitätsstatistiken ehrlich zu kommunizieren (und nicht, wie kürzlich geschehen, den Anstieg von Morden, Vergewaltigungen und Messerstechereien im Kleingedruckten zu verstecken). Sie tut gut daran, den Bürgern die Wahrheit zu sagen (und nicht, wie es auch die jetzige Regierung gern tut, unbequeme Studien und Gutachten in der Schublade zu verstecken).
Die Demokratie erfordert nicht nur Anstrengungen ihrer Bürger, sondern auch der Demokratie selbst. Es ist die Anstrengung wert.