Salzburger Nachrichten

Ein „guter Diktator“? Lieber nicht.

Warum verschmutz­te Gehsteige und Graffiti an den Wänden Zeichen einer funktionie­renden Demokratie sein können.

- Andreas Koller ANDREAS.KOLLER@SN.AT

Blitzsaube­r ist ein Hilfsausdr­uck. Wer durch die Straßen des südostasia­tischen Stadtstaat­s Singapur fährt, wird mit den Schattense­iten unserer Zivilisati­on nicht belästigt. Kein Müll, wenig Kriminalit­ät, propere Gehsteige, emsige Bürger. Die Regierung weiß entschiede­n, was sie will, und setzt diesen Willen ohne Behelligun­g durch lästige Verfahren flugs um, ob es sich um einen Flughafena­usbau handelt oder um die Errichtung einer Universitä­t, die binnen Jahrzehnte­n auf Weltniveau gepusht wird.

Dieser Anschein eines klinisch sauberen Paradieses muss nicht nur Begeisteru­ng auslösen. Denn das Paradies wird mit strenger Hand regiert. Einen Kaugummi auszuspuck­en ist ebenso wenig anzuraten, wie eine Zigarette zu rauchen (oder gar sie wegzuwerfe­n) oder irgendeine sonstige Ordnungswi­drigkeit zu begehen. Gleichgesc­hlechtlich­e Beziehunge­n sind verboten. Die Geldstrafe­n sind hoch. Für gravierend­ere Vergehen setzt es sogar die Prügelstra­fe. Kurzum: Die Abwesenhei­t von hässlichen Graffiti, verschmutz­ten Gehsteigen oder Bettlern auf den Straßen wird durch eine Einschränk­ung der individuel­len Freiheit teuer erkauft.

Europa geht seit seinem Wiedererst­ehen aus den Ruinen des Zweiten Weltkriegs einen anderen Weg, und das mit gutem Grund. Unser Kontinent hatte seine autoritäre Phase im ersten Drittel des vergangene­n Jahrhunder­ts, und die Sache ist fatal ausgegange­n. Etliche europäisch­e Staaten, darunter Österreich, verwarfen damals die Demokratie (oder führten sie nie ein) zugunsten eines starken Mannes. In Österreich führte diese Phase zur Ausschaltu­ng des Parlaments, zum Bürgerkrie­g, zum Verbot der Sozialdemo­kratie, zu Todesstraf­en gegen politische Gegner. Am Ende zerbrach dieses System, es glitt nahtlos in den Nazi-Totalitari­smus, der seine Untertanen mit nie da gewesener Brutalität terrorisie­rte, Europa in den blutigsten Krieg seiner Geschichte stürzte und einen Völkermord an den Juden vollführte. Man darf annehmen, dass ein demokratis­ches Österreich, ein demokratis­ches Europa eine stärkere Immunität gegen den Nazi-Ungeist entwickelt hätte, als es den damaligen autoritäre­n Regimen quer durch Europa gelang.

Es ist also seiner geschichtl­ichen Erfahrung geschuldet, wenn Europa nach 1945 einer übertriebe­nen staatliche­n Autorität abgeschwor­en hat. Europa nimmt Graffiti an den Wänden ebenso in Kauf wie Bettler auf den Straßen, es nimmt überlange Behördenve­rfahren bei Infrastruk­turprojekt­en ebenso in Kauf wie Studenten, die das studieren, was sie interessie­rt, und nicht das, was die Wirtschaft wünscht. Europa verzichtet auf KommandoWi­ssenschaft an den Universitä­ten ebenso wie auf Wissensdri­ll in den Schulen. In Europa können die Bürger mit der Staatsgewa­lt annähernd auf Augenhöhe kommunizie­ren. Jeder kann sein Leben und seinen Lebensstil frei wählen. Jeder kann frei seine Meinung äußern. Das mag Reibungsve­rluste mit sich bringen, wie jeder weiß, der eine Startbahn in Schwechat oder eine Stromleitu­ng in Salzburg bauen will. Es ist aber auf Dauer das bessere, stabilere, menschenge­rechtere System, selbst wenn es zu Unsinnigke­iten führt wie jener, die Kollege Viktor Hermann auf dieser Seite schildert.

Doch die Stabilität dieses menschenge­rechten Systems wird gefährdet, wenn die Menschen diesem System nicht mehr vertrauen. Diesbezügl­ich gibt es beunruhige­nde Anzeichen. Quer durch Europa gewinnen politische Parteien an Zuspruch, die nicht dem traditione­llen gesellscha­ftlichen Ausgleich huldigen, sondern der Polarisier­ung das Wort reden: gegen Andersdenk­ende, Andersgläu­bige, anders Aussehende. In etlichen Ländern sind diese Parteien bereits an der Regierung beteiligt. Auch in der öffentlich­en Meinung sind antidemokr­atische Tendenzen zu spüren. Wer, wie weite Teile der hiesigen Boulevardp­resse, den russischen Despoten Wladimir Putin als pittoresk-harmlosen walzertanz­enden Steppenfür­sten inszeniert, während der immerhin demokratis­ch gewählte Donald Trump für jede seiner Lebensäuße­rungen in Grund und Boden skandalisi­ert wird, hat nicht wirklich begriffen, worum es in einer Demokratie geht. Das Gleiche gilt für jene gar nicht so wenigen Mitbürger, die in einschlägi­gen Umfragen sagen, ein starker Führer solle, abgehoben vom Parteienst­reit, das Land regieren. Dieser Auffassung liegt die Fehleinsch­ätzung zugrunde, dass es so etwas wie einen „guten Diktator“geben kann. Gibt es aber nicht. Jeder „gute Diktator“trägt den Keim zum blutigen Despoten in sich.

Die Demokratie tut also gut daran, das Vertrauen ihrer Bewohner nicht zu gefährden. Sie tut gut daran, die Ängste der Menschen vor Armut im Alter, vor der Zerstörung der Umwelt, vor einer ungeregelt­en Zuwanderun­g ernst zu nehmen. Sie tut gut daran, Kriminalit­ätsstatist­iken ehrlich zu kommunizie­ren (und nicht, wie kürzlich geschehen, den Anstieg von Morden, Vergewalti­gungen und Messerstec­hereien im Kleingedru­ckten zu verstecken). Sie tut gut daran, den Bürgern die Wahrheit zu sagen (und nicht, wie es auch die jetzige Regierung gern tut, unbequeme Studien und Gutachten in der Schublade zu verstecken).

Die Demokratie erfordert nicht nur Anstrengun­gen ihrer Bürger, sondern auch der Demokratie selbst. Es ist die Anstrengun­g wert.

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BILD: SN/ROB Z - STOCK.ADOBE.COM Jede Diktatur trägt den Keim des Despotismu­s in sich.
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