Pseudodemokratische Lösung eines nebensächlichen Problems
Das Tempo, mit dem Europas Politik auf eine Online-Umfrage reagiert, lässt für die Zukunft Schlimmes befürchten.
Die Europäische Union gibt sich den Anschein, als unterwerfe sie sich dem Votum ihrer Bürger. Zu diesem Zweck organisierte man eine Online-Umfrage zum Thema Umstellung der Uhren zwischen Sommerzeit und normaler mitteleuropäischer Zeit. An der Umfrage nahmen weniger als ein Prozent der rund 500 Millionen von einer solchen Entscheidung betroffenen Europäerinnen und Europäer teil. Rund drei Viertel aller Teilnehmer an der Umfrage leben in einem einzigen Land, nämlich Deutschland. Diese verschwindende Minderheit spricht sich dafür aus, ganzjährig nur noch eine Zeit zu haben. Darauf erklärt Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker: „Die Leute wollen das, wir machen das.“
Man greift sich verwundert und verwirrt an den Kopf. Seit wann repräsentiert ein Prozent „die Leute“? Seit wann hat die EU die parlamentarische Demokratie abgeschafft und trifft Entscheidungen auf Zuruf von Minderheiten? Seit wann ist die Frage, ob man die Uhr zwei Mal im Jahr umstellen muss, von so epochaler Bedeutung, dass die ganze EU-Kommission alle anderen Themen hinter diese Frage reiht?
Erschütternd auch, dass die deutsche Kanzlerin Angela Merkel blitzartig dem „Votum“von einem Prozent folgen will. Bei unserer Bundesregierung hingegen wundert einen das gar nicht mehr. Wollen Juncker, Merkel und Co. den Populisten den Wind aus den Segeln nehmen, indem sie sie auf der Populistenrennbahn überholen?
Man hat Grund, heftig zu erschrecken. Erstens, weil ganz offensichtlich von der EU-Kommission bis in diverse Regierungspaläste der Vorgang und der Sinn demokratischer Entscheidungsfindung mit einer Handbewegung über Bord geworfen werden. Wenn eine nicht repräsentative Online-Umfrage zur Grundlage von Entscheidungen wird, dann schafft sich die Demokratie selbst ab. Online-Umfragen können nicht Volkes Willen spiegeln, sie bringen allenfalls Hinweise auf Stimmungen.
Das Vorgehen der EU beschwört enorme Gefahren herauf. Wenn weniger als ein Prozent der Menschen die Richtung vorgeben können, sind der Manipulation Tür und Tor geöffnet.
Der zweite Grund für den Schock ist die Nonchalance, mit der die EU und etliche Politiker ein Randthema zum zentralen Problem hochjubeln. Ganz so, als wäre die EU nicht vom Verfall bedroht, als hätten wir kein Migrationsproblem, als müsste man sich nicht mit autokratischen Bestrebungen in etlichen Ländern befassen. Populisten, Rassisten und Antisemiten sind auf dem Vormarsch, stellen die europäische Solidarität infrage. Das Verhältnis zum großen Verbündeten Amerika ist in Gefahr, der große Nachbar Russland mischt sich in unsere Politik ein. Und Brüssel, Berlin und Wien sitzen im politischen Sandkasten und basteln an einer direktdemokratischen Fata Morgana.