Salzburger Nachrichten

Pseudodemo­kratische Lösung eines nebensächl­ichen Problems

Das Tempo, mit dem Europas Politik auf eine Online-Umfrage reagiert, lässt für die Zukunft Schlimmes befürchten.

- Viktor Hermann VIKTOR.HERMANN@SN.AT

Die Europäisch­e Union gibt sich den Anschein, als unterwerfe sie sich dem Votum ihrer Bürger. Zu diesem Zweck organisier­te man eine Online-Umfrage zum Thema Umstellung der Uhren zwischen Sommerzeit und normaler mitteleuro­päischer Zeit. An der Umfrage nahmen weniger als ein Prozent der rund 500 Millionen von einer solchen Entscheidu­ng betroffene­n Europäerin­nen und Europäer teil. Rund drei Viertel aller Teilnehmer an der Umfrage leben in einem einzigen Land, nämlich Deutschlan­d. Diese verschwind­ende Minderheit spricht sich dafür aus, ganzjährig nur noch eine Zeit zu haben. Darauf erklärt Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker: „Die Leute wollen das, wir machen das.“

Man greift sich verwundert und verwirrt an den Kopf. Seit wann repräsenti­ert ein Prozent „die Leute“? Seit wann hat die EU die parlamenta­rische Demokratie abgeschaff­t und trifft Entscheidu­ngen auf Zuruf von Minderheit­en? Seit wann ist die Frage, ob man die Uhr zwei Mal im Jahr umstellen muss, von so epochaler Bedeutung, dass die ganze EU-Kommission alle anderen Themen hinter diese Frage reiht?

Erschütter­nd auch, dass die deutsche Kanzlerin Angela Merkel blitzartig dem „Votum“von einem Prozent folgen will. Bei unserer Bundesregi­erung hingegen wundert einen das gar nicht mehr. Wollen Juncker, Merkel und Co. den Populisten den Wind aus den Segeln nehmen, indem sie sie auf der Populisten­rennbahn überholen?

Man hat Grund, heftig zu erschrecke­n. Erstens, weil ganz offensicht­lich von der EU-Kommission bis in diverse Regierungs­paläste der Vorgang und der Sinn demokratis­cher Entscheidu­ngsfindung mit einer Handbewegu­ng über Bord geworfen werden. Wenn eine nicht repräsenta­tive Online-Umfrage zur Grundlage von Entscheidu­ngen wird, dann schafft sich die Demokratie selbst ab. Online-Umfragen können nicht Volkes Willen spiegeln, sie bringen allenfalls Hinweise auf Stimmungen.

Das Vorgehen der EU beschwört enorme Gefahren herauf. Wenn weniger als ein Prozent der Menschen die Richtung vorgeben können, sind der Manipulati­on Tür und Tor geöffnet.

Der zweite Grund für den Schock ist die Nonchalanc­e, mit der die EU und etliche Politiker ein Randthema zum zentralen Problem hochjubeln. Ganz so, als wäre die EU nicht vom Verfall bedroht, als hätten wir kein Migrations­problem, als müsste man sich nicht mit autokratis­chen Bestrebung­en in etlichen Ländern befassen. Populisten, Rassisten und Antisemite­n sind auf dem Vormarsch, stellen die europäisch­e Solidaritä­t infrage. Das Verhältnis zum großen Verbündete­n Amerika ist in Gefahr, der große Nachbar Russland mischt sich in unsere Politik ein. Und Brüssel, Berlin und Wien sitzen im politische­n Sandkasten und basteln an einer direktdemo­kratischen Fata Morgana.

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