Ein Favorit ist die „Favoritin“
Erste Eindrücke vom Wettbewerb am Lido von Venedig. Einen Lieblingsfilm gibt es bereits. Yorgos Lanthimos’ „The Favourite“ist Kostümkino mit Krallen und Zähnen.
VENEDIG. Der englische Hof im frühen 18. Jahrhundert: Die Herzogin von Marlborough (gespielt von Rachel Weisz) ist als Beraterin und heimliche Liebhaberin von Queen Anne (grandios: Olivia Colman) eine mächtige Frau. Dann kommt allerdings ihre Nichte nach London, die verarmte Abigail Masham (Emma Stone), auf der Suche nach einer Stelle. Bald hat sich Abigail mit Freundlichkeit und Geschicklichkeit für die Königin selbst als neuer Liebling unentbehrlich gemacht.
„The Favourite“ist ein böses, herrlich durchkomponiertes Kostümdrama und der aktuelle Lieblingsfilm am Lido in Venedig. Es ist der dritte englischsprachige Film des griechischen Hollywood-Lieblings Yorgos Lanthimos, nach der schrägen Gesellschaftsdystopie „The Lobster“und dem zynischen Familienhorror „The Killing Of A Sacred Deer“, und es ist Lanthimos’ bisher zugänglichste Arbeit.
Leichtherzig ist „The Favourite“deswegen aber noch lang nicht, etwa bei der Charakterisierung von Abigail, die deswegen mit einer mächtigen Kombination aus Süße und Ruchlosigkeit aufwarten kann, weil sie so Fürchterliches durchgemacht hat: Sie wurde schon als Kind vielfach vergewaltigt, wovor soll sie sich noch fürchten? Immer wieder setzt der Film solche zynischen Akzente, ohne deswegen irgendein Trauma zu verharmlosen, und erzählt von Konkurrentinnen, ohne je ins Klischee der Stutenbissigkeit zu verfallen.
In diesen ersten Festivaltagen gab es in Venedig auffällig viele weiblich dominierte Geschichten, wenn auch immer unter Männerregie: Alfonso Cuaróns Drama „Roma“, ein mexikanisches Panorama im Jahr 1971 zur Zeit von politischem Aufruhr, das aus der Sicht einer indigenen Hausangestellten erzählt wird, die bei einer weißen Familie arbeitet. Kaum erträglich sind da die wie ein Naturgesetz akzeptierten Klassenunterschiede, die freundlichherablassende Art, mit der die weißen Arbeitgeber ihre braunen Angestellten wie Kinder behandeln. „Roma“ist ein brillanter SchwarzWeiß-Film, der mit wachem Blick von Ungerechtigkeit berichtet – ein Werk, das übrigens von der Streamingplattform Netflix produziert wurde.
Am Samstag feierte Luca Guadagninos „Suspiria“seine Premiere, eine Hommage an Dario Argentos Giallo. Der Film dreht sich um eine Gruppe deutscher Hexen, die Tanzschülerinnen für ihre Zwecke einsetzen. Tilda Swinton spielt die Oberhexe in einem Film erneut ohne nennenswerte männliche Rolle – der einzige wesentliche Mann im Film wird Gerüchten zufolge ebenfalls von Swinton in Maske und Perücke gespielt. Guadagninos „Suspiria“verortet die Geschichte in Berlin 1977, das sich in einem heftigen Umbruch befindet: Der RAFTerror spaltet die Gesellschaft, der Zweite Weltkrieg ist nicht einmal ansatzweise verarbeitet. Der Film ist ein brutales, formal verspieltes Ding, wunderschön konstruiert. Dass diese Konstruktion in den letzten zehn Filmminuten dann nicht mehr hält, schmälert das Filmvergnügen am Ende leider signifikant.
Männergeschichten kommen im Wettbewerb ebenfalls zum Zug, gleich zwei Mal sogar im Western: Jacques Audiards „The Sisters Brothers“über zwei überraschend menschliche Kopfgeldjäger ist die erste amerikanische Arbeit des Franzosen und eine einsichtige Variation über den US-Heimatfilm, der näher an linken HowardHawks-Klassikern ist als an JohnFord-Raubeinigkeit. Und „The Ballad of Buster Scruggs“der Coen-Brüder ist eine Anthologie kleiner zynischer Wildwest-Vignetten, allesamt Dekonstruktionen amerikanischer Mythen, so finster wie Roald-Dahl-Kurzgeschichten in unterschiedlichen Genres.
„Buster Scruggs“ist eine von insgesamt vier Netflix-Produktionen im Wettbewerb, „Suspiria“wurde von Amazon kofinanziert. „Buster Scruggs“- und Coen-Lieblingsdarsteller Tim Blake Nelson sagt dazu im SN-Interview: „Ich bewundere Netflix und Amazon dafür, dass sie mithelfen, Kunstkino am Leben zu halten. Ins Kino geht man heute eher wegen des Spektakels, aber Film kann so viel mehr sein.“
Der diesjährige Wettbewerb am Lido von Venedig bestätigt das eindrucksvoll schon in seinen ersten Tagen.