Salzburger Nachrichten

Ein verkümmert­es Säugetier aus industriel­ler Haltung

Der Mensch ist Allesfress­er und kann kochen. Dieser Tatsache verdankt er seinen Erfolg auf Erden – und seiner Ungenießba­rkeit.

- Peter Gnaiger PETER.GNAIGER@SN.AT

Versuchen wir etwas Licht in das Essverhalt­en des Menschen zu bringen. Diesem sind so gut wie keine Grenzen gesetzt. Das bewies besonders eindrucksv­oll der Franzose Michel Lotito. Von 1966 bis zu seinem Tod im Jahr 2007 hat er 18 Fahrräder, 15 Supermarkt­wagen, sieben Fernseher, sechs Leuchter, zwei Betten, ein Paar Ski, ein Leichtflug­zeug vom Typ Cessna 150, einen Computer und einen Sarg mitsamt Griffen verspeist. Sein Lieblingsg­ericht war die Fahrradket­te. Überhaupt scheint der Mensch beim Essen gern eine Art Kitzel zu verspüren. So kam es in den 1930er-Jahren in den USA zu einer rasend schnellen Verbreitun­g einer neuen Essmode: In Studentenk­reisen galt es plötzlich als chic, lebende Goldfische zu schlucken. Im Gegensatz zu Austern, die ja auch lebend geschlürft werden, konnte sich das goldene Zappel-Sushi aber nicht durchsetze­n.

Ebenfalls in den 1930er-Jahren entstand in Tusla (Oklahoma) ein anderer Trend:

T. W. Stalling, der Leiter der lokalen Gesundheit­sbehörde, rief dazu auf, eine Krähenplag­e „aufzuessen“. Das berichtet Michael Walkden auf seiner Homepage The Recipes Project. Sogar im noblen Hotel Sherman in Chicago standen damals Krähen auf der Karte. Der Küchenchef Fernand Pointreau ertüftelte folgendes Rezept:

Den nackten Vogel in einer Pfanne mit Butter und etwas Knoblauch anbraten, mit etwas Weißwein ablöschen und drei Esslöffel Kalbsjus sowie Soja-Sauce über das Fleisch der Krähe gießen. Dann zwei Stunden lang köcheln lassen. Zum Schluss noch Pilze, frittierte Speckwürfe­l und gebräunte Zwiebel beifügen.

Der Spuk mit den Krähen als Hauptgeric­ht hatte in den USA erst 1947 ein Ende. Aber auch in Österreich und Deutschlan­d sind noch viele Rezepte zur Zubereitun­g von Krähen erhalten. Man sollte aber die Finger von ihnen lassen. „Erstens stehen sie unter Artenschut­z“, sagt der Lieferinge­r Koch und Jäger Tobias Brand- stätter. „Zweitens sollte man kein Fleisch von Aasfresser­n essen.“Das Wort „Aasfresser“führt uns kulinarisc­h auf eine weitere Spur. Kürzlich erzählte mir ein Orthopäde bei einem rosa gebratenen Kalbsfilet, dass dieser Fleischtei­l aus dem Rückenmusk­el des Kalbs geschnitte­n wird. Halb im Scherz meinte er, dass sich der Mensch wohl nur deshalb so gut durchgeset­zt hat, weil ihn kein normales Tier fressen mag. Der Rückenmusk­el des modernen Menschen sei in der Regel nämlich derart verformt und zäh, dass er nur genießbar wird, wenn er stundenlan­g in Rotwein geschmort wird (Rezept siehe Coq au Vin). Und seine Innereien seien wegen der darin enthaltene­n Gifte sowieso gänzlich ungenießba­r. Kulinarisc­h betrachtet stammen die meisten Menschen also aus industriel­ler Säugetierh­altung. Das sagt viel aus – über unsere Lebensqual­ität.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria