Wer übernimmt die Führung?
Menschen mit ausgeprägten Führungsfähigkeiten brauchen weniger Gewissheiten, wenn sie Entscheidungen treffen. Wer ein größeres Sicherheitsbedürfnis hat, delegiert lieber.
An Führungskräfte werden hohe Anforderungen gestellt: Sie sollten wissen, wohin die Reise des Unternehmens geht, und Ziele stecken. Sie sollten gut kommunizieren können, eine konstruktive Arbeitsatmosphäre herstellen, die Mitarbeiter ernst nehmen und deren Stärken erkennen können. Von Führungskräften wird erwartet, dass sie Macher sind mit hoher Leistungsbereitschaft und Umsetzungswillen. Führungskräfte sollen Probleme lösen, Rückschläge aushalten, die Unternehmenszahlen beachten und die Kunden zufriedenstellen. Führungskräfte sollen selbst lernen wollen, Vorbild sein, Fachwissen und Menschenkenntnis haben.
Das sind nur Auszüge aus dem anspruchsvollen Katalog für „Wunderwuzzis“. Es ist demnach kein Wunder, dass sich auf den oberen Etagen Fälle von Burn-out häufen. Manche Menschen kommen allerdings mit den Anforderungen leichter zurecht als andere.
Was macht Menschen also zu Führungspersönlichkeiten? In einer Studie haben sich Forscher der Universität Zürich angeschaut, was Menschen mit ausgeprägten Führungsfähigkeiten auszeichnet. In der Studie, die im Magazin „Science“veröffentlicht wurde, identifizieren sie Verantwortungsabneigung – mit dem Fachwort „Responsibility Aversion“bezeichnet – als Schlüsselfaktor, der Menschen, die sich lieber führen lassen, von Führungspersönlichkeiten unterscheidet. Verantwortungsabneigung ist der Widerwille, Entscheidungen zu treffen, die auch andere Menschen mehr oder minder beeinflussen. Die Studie umfasste Experimente, in denen Gruppenleiter eine Entscheidung selbst fällen oder an die Gruppe delegieren konnten. Unterschieden wurden „Selbstversuche“, in denen sich die Entscheidung nur auf den Leiter selbst auswirkte, und „Gruppenversuche“, bei denen die Konsequenzen die ganze Gruppe betrafen. Die neurobiologischen Vorgänge während der Entscheidungsprozesse untersuchten die Wissenschafter mittels funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT).
Die Forscher testeten verbreitete Annahmen wie die Vorstellung, dass risikofreudige Menschen, Personen mit wenig Verlustängsten oder Menschen mit einem großen Kontrollbedürfnis eher bereit sind, Verantwortung für andere zu übernehmen. Diese Charaktereigenschaften boten jedoch keine Erklärung für die bei den Versuchsteilnehmern unterschiedlich stark ausgeprägte Verantwortungsabneigung. Ausschlaggebend dafür ist ein anderer Einflussfaktor: Hatte eine Entscheidung auch Auswirkungen auf andere Personen, benötigten manche Entscheidungsträger eine größere Gewissheit über das bestmögliche Vorgehen. Diese Verschiebung in Richtung Sicherheitsbedürfnis war stark ausgeprägt bei Personen mit großer Abneigung, Verantwortung zu übernehmen, wie Studienleiter Micah Edelson erklärt: „Unser Ansatz betont, dass sich der Grad der Gewissheit, der für eine Entscheidung notwendig ist, verändert.“Der Schlüsselfaktor passt demnach zu verschiedenen Arten von Führungspersonen: zu autoritären Führern, die Entscheidungen einsam treffen, ebenso wie zu egalitären Führungspersonen, die den Gruppenkonsens suchen. Diese Erkenntnis spricht auch dafür, dass Führungskräfte sich nicht scheuen sollten, seriöses Coaching in Anspruch zu nehmen.