„Wir sind mehr“
Rund 65.000 Menschen zeigten in Chemnitz Flagge gegen rechts. Doch im Osten Deutschlands ist Fremdenfeindlichkeit tief verwurzelt.
Politische Bildung wurde vernachlässigt HELMUT UWER
BERLINT. Am Montagabend hat das andere Chemnitz Gesicht gezeigt. 65.000 Menschen waren friedlich zu einem Konzert gegen rechts versammelt. Das war mehr als das Zehnfache als beim Aufmarsch der rechten Szene am Tag nach dem tödlichen Messerangriff auf den 35jährigen Daniel H. durch zwei Flüchtlinge vor einer Woche. Das Konzert unter dem Motto „Wir sind mehr“sollte deutlich machen, dass die rechte Szene nicht nur in der 250.000-Einwohner-Stadt Chemnitz eine Minderheit ist. Beatrix von Storch, Fraktionsvize der rechtspopulistischen Partei Alternative für Deutschland (AfD) im Bundestag, wollte das aber nicht wahrhaben und twitterte: „Ihr seid nicht mehr. Ihr seid Merkels Untertanen, ihr seid abscheulich – und ihr tanzt auf Gräbern.“
Doch diese braune Minderheit beherrscht seit Tagen die Schlagzeilen. Immer mehr Wirtschaftsvertreter fürchten inzwischen um das Image Deutschlands in der Welt. „Die Ereignisse in Chemnitz sind aus Sicht der Wirtschaft inakzeptabel. Fremdenfeindlichkeit, Nationalismus und Selbstjustiz schaden auch dem Ansehen des Wirtschaftsstandorts Deutschland“, mahnte Eric Schweitzer, der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags.
Angesichts fehlender Fachkräfte hofft Berlin verstärkt auf Arbeitssuchende aus dem Ausland. Die aber kommen nur, wenn ein Klima der Weltoffenheit herrscht, darüber ist sich der Verband „Die Familienunternehmer“sicher. Um der Fremdenfeindlichkeit entgegenzuwirken, bietet etwa der Uhrenhersteller Nomos in Glashütte seit diesem Jahr Schulungen in Sachen Demokratie an. Geschäftsführerin Judith Borowski sagt: „Die Fremdenfeindlichkeit, der Hass auf etablierte Politik, die Enttäuschung über die Demokratie – das alles findet hier mittlerweile einen breiten Konsens.“
Seit dem Mord von Chemnitz vor einer Woche diskutiert Deutschland, warum Fremdenfeindlichkeit im Osten der Republik weitaus stärker verbreitet ist als im Westen. Diese Tatsache ist umso erstaunlicher, als sich der Osten in den vergangenen knapp 30 Jahren wirtschaftlich sehr positiv entwickelt hat. Gut 1,5 Billionen Euro sind in den „Aufbau Ost“geflossen. Vielerorts ist die Infrastruktur mittlerweile besser als etwa im Ruhrgebiet im Westen. Allen voran gehört Sachsen zusammen mit Thüringen zu den Leuchttürmen des Ostens. Die Wirtschaft floriert, die Arbeitslosigkeit ist hier unter den östlichen Bundesländern am niedrigsten.
Ex-Bürgerrechtler Frank Richter macht in erster Linie die Politik verantwortlich für das tief greifende Unverständnis der Funktionsweise der freiheitlich-demokratischen Ordnung: „Wir ernten das Ergebnis einer Vernachlässigung von politischer Bildung. Wir ernten das Ergebnis einer Vernachlässigung des Anwachsens einer rechtsextremistischen Szene in Sachsen.“Verantwortlich gemacht werden die CDUMinisterpräsidenten, angefangen mit dem aus dem Westen stammenden Kurt Biedenkopf. Der kommentierte die Randale vor zwei Ausländerwohnheimen in Hoyerswerda 1991 mit den Worten: „Das eigentliche Problem ist die Einwanderung.“
Dieser nonchalante Umgang mit Ausländerfeindlichkeit hat in Sachsen Tradition, wie der Berliner Historiker Harry Waibel aufzeigte. Als 1979 ein deutscher Mob Kubaner in die Saale trieb, wobei zwei ertranken, stellte die DDR-Generalstaatsanwaltschaft die Ermittlungen ein, „zumal keine erheblichen gesundheitlichen und materiellen Schäden vorliegen“. In der DDR gab es seit 1975 fast 40 rassistische Übergriffe auf Wohnheime von Vertragsarbeitern aus Kuba, Vietnam und Angola, im Westen dagegen bis 1992 keinen einzigen.
Unzufriedenheit mit der eigenen Situation hat sich laut Richter im Osten gehalten. Viele hätten das Gefühl, nicht nur Deutsche zweiter Klasse zu sein, sondern auch zu bleiben. Nach wie vor liegen die Löhne im Westen um etwa ein Viertel höher. Allerdings sind Mieten und Immobilienpreise im Osten deutlich günstiger. Bei den Pensionen sind die Ossis wegen ihrer meist längeren Beitragsjahre im Vorteil. Insbesondere Frauen haben eine deutlich höhere Rente als Frauen im Westen.