London blüht ein heißer Herbst
Die Sommerpause konnte die Gemüter in der Brexit-Debatte nicht beruhigen. Im Gegenteil: Ex-Außenminister Boris Johnson greift Premierministerin Theresa May scharf an.
Von einer Sommerpause durfte die britische Premierministerin Theresa May nur träumen. Zwar war der parlamentarische Betrieb seit Mitte Juli eingestellt. Aber die Hoffnung, dass mit dem Urlaub der Politiker auch die Zwistigkeiten um den Brexit-Kurs ruhen könnten, hat sich zerschlagen. Die Regierungschefin steht mehr denn je unter Druck.
Am Dienstag kam das Parlament erstmals wieder zusammen – aber in Westminster war von nichts anderem als dem „Propagandakrieg“die Rede, wie Medien die Fehde zwischen Mays Unterstützern und Fans des zurückgetretenen Außenministers Boris Johnson bezeichneten.
Aufseiten der Premierministerin stehen der für die Brexit-Verhandlungen zuständige Minister Dominic Raab sowie Abgeordnete und Kabinettskollegen. Sie werben unaufhörlich für den Regierungsvorschlag, der nach seiner Entstehung auf Mays Landsitz Chequers-Plan heißt.
Das Problem: Nicht nur BrexitHardliner wie Johnson lehnen den Vorschlag ab. Ihnen erscheint der Plan wie eine Kapitulation vor Brüssel. Fast bedeutender ist jedoch, dass auch Michel Barnier, der Verhandlungsführer der EU, den Plan zurückweist. Was den EU-Skeptikern auf der Insel wie eine Unterwerfung vorkommt, gilt auf dem Kontinent als Versuch einer Rosinenpickerei. So betonte Barnier abermals, dass es einen privilegierten Zugang zum gemeinsamen Binnenmarkt nicht geben könne. Das Königreich wünscht sich im Chequers-Plan eine Freihandelszone nur für Güter und würde damit in diesem Bereich de facto Binnenmarkt und Zollunion fortsetzen. Dienstleistungen und Personenfreizügigkeit blieben demnach ausgeklammert – Rosinenpickerei eben.
Wie geht es weiter? Bislang signalisierten weder Barnier noch May Kompromissbereitschaft. Die Premierministerin kämpft an gleich zwei Fronten und Brüssel dürfte für sie zumindest derzeit die geringere Gefahr darstellen. Denn die konservative Partei Mays zeigt sich zerstritten wie eh und je. Sie steht exemplarisch für die in der Europafrage tief gespaltene Nation. Als „monumentales Scheitern der politischen Führung“bezeichnete eine Kolumnistin der Zeitung „The Times“Mays Politik. Und die BrexitHardliner wetzen ohnehin die Messer.
Vor der Sommerpause und nach seinem Rücktritt war noch gemutmaßt worden, wie Boris Johnsons Pläne für die Zukunft aussehen. Mittlerweile dürfte klar sein, dass der Konservative plant, Parteichefin May noch in diesem Jahr herauszufordern. Johnson gehörte stets zu den größten Widersachern der Premierministerin. Regelmäßig und noch schärfer als vor seinem Rücktritt attackiert er May in Zeitungskolumnen. Es heißt, Johnson und seine Verbündeten wollten den Chequers-Plan kippen, einen eigenen Vorschlag publizieren und so in Westminster „einen Feuersturm entfesseln“. Johnson wirft May vor, sie gehe mit „wehender weißer Fahne“in die EU-Gespräche.
Brexit-Minister Raab präsentierte in den vergangenen Wochen erste Pläne für den Fall eines Scheiterns der Gespräche mit Brüssel. Darin zeigte sich, wie eng verstrickt Großbritannien mit der EU ist und welche weitreichende Konsequenzen eine ungeregelte Scheidung für beinahe alle Lebensbereiche haben könnte. Zu den eher faszinierenden Erkenntnissen gehörte, dass fast die Hälfte der Spermaspenden im Königreich aus Dänemark importiert werden. Der mögliche Engpass bei künstlichen Befruchtungen aber war nur ein Detail in den Papieren, die Raab vorlegte.
Im Lager der EU-Freunde regiert wahlweise Panik oder Frustration. Viele fordern ein zweites Referendum. Theresa May aber schloss eine erneute Volksabstimmung bereits mehrfach aus. Sie bereitet sich auf einen heißen Herbst vor.