Ist ein harter Brexit noch zu vermeiden?
Wenn sich Großbritannien und die EU nicht mehr Zeit für einen Austrittsvertrag nehmen, wird es wohl eine harte Trennung werden.
Endlich, mehr als zwei Jahre nach dem BrexitReferendum, hat die britische Regierung im Juli einen detaillierten Vorschlag – ein sogenanntes White Paper – zur Regelung der künftigen Beziehungen des Vereinigten Königreichs zur EU erstellt. Ihr Vorschlag: keine Zollunion, aber eine partielle Teilnahme am Binnenmarkt. Also eine Art „Binnenmarkt light“für den Warenhandel und im Gegenzug einen teilweise angeglichenen Rechtsrahmen („common rule book“). Das sollte laut Regierung auch die offene Grenze zwischen Nordirland und Irland ermöglichen. Damit hätten die Briten die Vorteile des Binnenmarktes, ohne die damit verbundenen Verpflichtungen erfüllen zu müssen.
Für den Dienstleistungssektor wünscht man sich die gegenseitige Anerkennung von Zulassungsbestimmungen für bestimmte Berufsgruppen (Ärzte, Anwälte, Wirtschaftsprüfer etc.). Im Finanzsektor will man kein „common rule book“, sondern eine Sonderregelung, die Großbritanniens künftiges Recht für den Finanzsektor als mit den EU-Bestimmungen gleichwertig anerkennt und dem Vereinigten Königreich einen mehr oder weniger unbeschränkten Marktzugang in die EU garantiert.
Die EU hat mittlerweile klargemacht, dass ein Binnenmarkt à la carte ein Wunschdenken ist. Laut Chefverhandler Michel Barnier gibt es keinen Binnenmarkt ohne Rechtskonformität (EuGH), Grundrechtecharta und Freizügigkeit.
Und der für den Finanzmarkt zuständige Kommissar Valdis Dombrovskis stellte klar, dass es die von den Briten gewünschte Gleichstellung für Finanzdienstleistungen nicht geben kann, denn dann wären die Geschäfte des britischen Finanzsektors in der EU für deren Aufsichtsbehörden eine „black box“.
Aber auch die Brexit-Hardliner im Parlament in London lehnen diese Vorschläge ab. Letztere, weil sie prinzipiell gegen jeglichen Einfluss europäischer Gesetzgebung sind und das White Paper dem Europäischen Gerichtshof zumindest ansatzweise einen solchen zugesteht. Es ist daher höchst unsicher, ob die Regierung für einen solchen Vertrag mit der EU eine Mehrheit im Parlament bekäme.
Schafft man bis spätestens November keine Einigung, wird es eng. Ohne Austrittsvertrag gibt es auch keine Übergangsfrist. Ein abrupter Austritt hätte aber auch negative Folgen für die EU – und für das Vereinigte Königreich wäre er eine Katastrophe. Dabei sind die zu erwartenden Staus und Wartezeiten an den Grenzen nur die sichtbarsten Konsequenzen. Viel schlimmer ist, dass ohne Übergangsfristen eine Reihe von Gütern und Dienstleistungen für Großbritannien nicht mehr handelbar ist, da die Zulassungen fehlen. Das gilt für Pharmazeutika und chemische Erzeugnisse ebenso wie für Güter des medizinischen Bedarfs.
Fluggesellschaften müssen dann ohne Landerechte am Boden bleiben, für Lkw gäbe es keine Transitgenehmigungen. Hunderttausende Verträge sind umzuschreiben. Und ohne Ärzte und Pflegepersonal aus der EU würde das britische Gesundheitswesen mehr oder weniger zusammenbrechen. Bevor es tatsächlich zum „Hard Brexit“kommt, sollte man daher überlegen, das derzeitige Austrittsdatum 28. März 2019 durch einen Beschluss des EURats und Großbritanniens (Art. 50 (3) EUV) zu verschieben. Ob Theresa May das zu Hause durchsetzen kann, ist allerdings fraglich. Marianne Kager war fast 20 Jahre Chefökonomin der Bank Austria. Heute ist sie selbstständige Beraterin. WWW.SN.AT/KAGER