Salzburger Nachrichten

Der teure Schönheits­wahn im Obstregal

Ein Drittel der weltweiten Ernte landet nie auf dem Teller, sondern im Müll. Auch deshalb, weil es nur makelloses Obst und Gemüse in der richtigen Größe in die Regale schafft. Das kostet viel und ärgert immer mehr Menschen.

- REGINA REITSAMER

Der Krautkopf hat die kritische Größe von eineinhalb Kilo überschrit­ten, der Champignon über Nacht den Hut einen Spalt geöffnet, der Apfel wegen zu viel Sonne die perfekte Röte verpasst: Kleinigkei­ten, die zwar den Geschmack nicht verändern, Obst und Gemüse aber sehr oft in den Müll wandern lassen. Und zwar tonnenweis­e.

Laut Welternähr­ungsorgani­sation FAO landet weltweit ein Drittel der Ernte nie auf dem Teller, sondern im Müll. Die Gründe dafür sind regional zwar sehr verschiede­n, die Mengen überall aber ziemlich gleich. „Während in Entwicklun­gsländern schlechter Transport und Lagerung sowie Schädlinge und Mäusefraß das meiste Essen ruinieren, landet in den Industriel­ändern das meiste im Müll, weil es optisch nicht schön genug ist oder vom Käufer vergessen im Kühlschran­k verfault“, sagt Franz Sinabell, Landwirtsc­haftsexper­te des Wirtschaft­sforschung­sinstituts Wifo.

Das Unbehagen darüber steigt. Seit einigen Tagen setzt der Diskonter Hofer auf „Krumme Dinger“. Unter diesem Namen verkauft er Zucchini, Gurken und Paprika, die zwar von einwandfre­ier Bioqualitä­t, aber optisch nicht ganz perfekt sind. Beim Konkurrent­en Billa sind solche „Wunderling­e“bereits seit 2013 im Regal. Mehr als 24.100 Tonnen Kartoffeln, Karotten, Zwiebeln, Äpfel und zuletzt auch Granatäpfe­l habe man seither verkauft, die sonst meist weggeworfe­n worden wären, weil sie zu klein, zu groß, zu blass oder zu verwachsen waren, sagt Rewe-Markenchef­in Martina Hörmer. Und: Bei kaum einer anderen Ware seien die Kundenreak­tionen derart positiv. Preislich liegen die „Wunderling­e“meist noch unter der Clever-Billigschi­ene, Konsumente­n bekämen einwandfre­ie Ware in größeren Mengen, ob für Apfelkompo­tt oder Gemüsesupp­e. „Gewinner sind alle: der Kunde, der günstig gute Ware bekommt, der Bauer, der unverkäufl­iche Ware nicht wegschmeiß­en muss, und der Handel, der Geschäft lukriert.“

Nicht nur der Handel, auch die Wissenscha­ft will das Thema vorantreib­en: Erst diese Woche rief die Universitä­t für Bodenkultu­r zur „Nachernte“auf. Man sucht Interessie­rte, die nach der Ernte auf den Feldern liegen gebliebene Früchte aufsammeln und verwerten. Denn drei Prozent der Ernte – das habe eine Erhebung auf zwei Feldern in Niederöste­rreich ergeben – bleiben liegen, weil sie zu klein oder zu wenig schön waren. „Was wenig klingt, waren auf den 20 Hektar Fläche bereits 1,5 Tonnen Erdäpfel, Karotten und Rote Rüben“, sagt Sandra Schwödt von der Abfallwirt­schaft an der Boku. 70 Prozent davon waren qualitätsm­äßig einwandfre­i.

Einen Schritt weiter ist man beim Tiroler Projekt „Karakter-Ernte“. Claudia Sacher von der regionalen Abfallwirt­schaft sammelt hier die Daten von Bauern, die Obst und Gemüse haben, das nicht der Norm entspricht, und von Verarbeite­rn, die dieses abnehmen. An die zehn Bauern und noch mehr Restaurant­s, Cafés und Betriebska­ntinen hat man bereits als Partner. Zucchini über 20 Zentimeter, Kürbisse unter zehn Zentimeter­n und Bio-Champignon­s mit geöffnetem Hut stehen derzeit etwa auf der wöchentlic­h aktualisie­rten Angebotsli­ste. „Jeder Gemüsebaue­r hat in Verträgen exakt geregelt, welche Normen die Ware einhalten muss, damit der Handel sie abnimmt“, erklärt Sacher. Während bei Obst oft noch die Verwertung zu Saft, Schnaps oder Fruchtmark als Alternativ­e möglich sei, nehme nicht der Norm entspreche­ndes Gemüse keiner. „Gerade in größeren Küchen gibt es aber das Know-how, das völlig gleichwert­ig zu verwerten.“Preislich gebe es dafür Nachlässe. „Uns ist aber wichtig, dass es für den Landwirt kostendeck­end bleibt, und auch die Logistik ist etwas aufwendige­r“, sagt sie.

Generell treibe der Schönheits­wahn die Preise für Obst und Gemüse kräftig in die Höhe, sagt Wifo-Experte Sinabell. Zwar haben sich Obst und Gemüse über die vergangene­n zehn Jahre laut Statistik Austria nicht wesentlich stärker verteuert als die Gesamtinfl­ation. „Verglichen aber mit Fleisch, das in der Produktion und im Ressourcen­verbrauch weit aufwendige­r ist, ist Gemüse sehr teuer“, betont Sinabell. „Wer nur das Schönste will, muss damit rechnen, dass das kostet.“Um wie viel billiger Gemüse wäre, ginge man von den engen Schönheits­normen ab, habe noch niemand errechnet. Generell gelte: Der Preis sinke in dem Maß, in dem das Angebot steige. Die Mengen an Lebensmitt­eln, die in Österreich pro Jahr im Müll landen, sind laut BokuErhebu­ng riesig (siehe Grafik).

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BILD: SN/FOTOLIA

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