Die Rückgabe Hongkongs: Erich Follath analysiert Lage in Asien
Dort, wo einmal europäische Kolonialmächte bestimmt haben, gibt jetzt Peking den Takt vor. SN: Chinas Selbstbewusstsein heute beruht vor allem auf dem wirtschaftlichen Erfolg. Hat die Haltung, dass man sich vom Westen nichts mehr sagen lassen möchte, auch zu tun mit den früheren Erfahrungen der Demütigung durch die europäischen Kolonialmächte (Stichwort: Opiumkriege)? Erich Follath: Ja, mit Sicherheit. Das ist in China allgegenwärtig. Es ist ein absolutes Trauma, das bis in die Neuzeit nachwirkt. Die „ungleichen Verträge“, wie die Chinesen mit einer durchaus freundlichen Formulierung sagen, haben im 19. Jahrhundert dazu geführt, dass das Land mit Opium überschwemmt worden ist. China ist damit abhängig gemacht und auch in seiner Entwicklung geschwächt worden. Das nachhallende Echo darauf erkennt man etwa in dem Triumph Pekings darüber, dass Hongkong und Macao ins Reich zurückgeholt werden konnten. SN: Was bedeutete, summarisch gesprochen, die europäische Kolonialherrschaft in Asien? War es vor allem Fremdherrschaft und ökonomische Ausplünderung? Bei den Kolonialmächten in Europa gab es immer auch einen Rechtfertigungsdruck: Man wollte begründen, warum man diese Politik verfolgte; man wollte zeigen, dass nicht nur wirtschaftliche Interessen das Antriebsmoment waren. Tatsächlich ging die Suche nach Reichtum einher mit dem Glauben, in einem höheren Auftrag, im Auftrag Gottes, zu handeln, um die Heiden zu bekehren – und als Sendboten einer überlegenen Zivilisation, die man in der ganzen Welt verbreiten wollte. SN: Gab es im Kolonialismus auch etwas anderes, Positiveres? Gerade bei den Briten war der Modernisierungseifer ausgeprägt. Nach dem Vorbild der industriellen Revolution im Mutterland wollten die Kolonialherren den indischen Subkontinent vor allem mit Eisenbahngleisen und Telefonleitungen überziehen. In Indien gibt es bis heute eine sehr lebhafte Diskussion darüber, ob die Briten mehr Positives oder mehr Negatives gebracht haben. Aber bei allem Respekt vor den Leistungen der britischen Kolonialherren muss man wohl sagen: Das Negative überwiegt. SN: Einen geordneten Machttransfer hat es 1947 auf dem indischen Subkontinent nicht gegeben. Ist der Dauerkonflikt zwischen Indien und Pakistan ein gefährliches Erbe dieser desaströsen Dekolonisation? Natürlich. Das Prinzip „Divide et impera“, also Teilen und Herrschen, war die bestimmende Strategie der Briten. Sie hat sich auch darin geäußert, dass sie Hindus und Muslime gegeneinander ausgespielt haben. Dabei gab es auch viel Demütigendes. Das Ende der Kolonialherrschaft mit den gewaltsamen Zusammenstößen zwischen den großen religiösen Gruppen hat viel damit zu tun, wie die Briten mit dem ganzen Subkontinent umgegangen sind. SN: Trotz dieser Erfahrungen hat sich die Indische Union aber nie von der britischen politischen Kultur mit Demokratie und Rechtsstaat abgewendet … Mahatma Gandhi hat das britische Kolonialsystem sehr geschickt, ja fast genial ausgenutzt. Er hat die geltenden Regeln gegen die Kolonisatoren gewendet. Tatsächlich haben die Briten nicht nur mit der Peitsche, sondern auch mit Regeln regiert. Viele Inder sagen, dass man die Nationsfindung zu einem großen Teil auch den Briten verdanke. Allerdings ist der Preis dafür sehr hoch gewesen. Die Teilung des Subkontinents ist ein brutales, in Massaker 1997 markierte für die Chinesen ein einschneidendes Datum, weil sie der Auffassung waren, dass mit der Rückgabe der britischen Kronkolonie Hongkong historisches Unrecht partiell wiedergutgemacht wurde. Das ist die Einschätzung des deutschen Asien-Kenners Erich Follath im SN-Gespräch. Peking wollte die Freiheiten, die Hongkong als Börseplatz hat, als Modell für andere Städte Chinas nutzen. In jüngster Zeit aber hat Follath den Eindruck, dass Peking dabei ist, diese Freiheiten immer mehr abzubauen. Erich Follath, 1949 geboren, war viele Jahre für das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“als Diplomatischer ausartendes historisches Ereignis geworden. SN: Wie realistisch ist die Hoffnung der Briten, dass sie nach dem Brexit ökonomische Verluste durch verstärkten Handel mit früheren Kolonien wie Indien ausgleichen könnten? Das halte ich für eine völlige Illusion. Das sind von den Brexit-Befürwortern verabreichte Beruhigungspillen. Indien gehört zu jenen Staaten, die ihre Außenpolitik so betreiben, dass sie wie andere Commonwealth-Länder auf eigenes Interesse achten und – wenn überhaupt – versuchen werden, bessere Deals zu bekommen, als sie sie heute haben. SN: Großbritannien hat erlebt, dass nach dem Zweiten Weltkrieg verstärkt Migranten aus den früheren Kolonien ins Land gekommen sind – zuerst aus der Karibik, dann auch aus Asien und Afrika. Ist das eine Quittung für die Kolonialherrschaft? Korrespondent und als Leiter des Auslandsressorts tätig. Große Beachtung fanden seine Sachbücher wie etwa „Die neuen Großmächte“(2016). Sein neues Buch „Siddhartas letztes Geheimnis“beschreibt eine Reise über die Seidenstraße zu den Quellen des Buddhismus (dva, München 2018). Die These, dass die Kolonisation sozusagen als Bumerang zu den Kolonialmächten zurückkommt, ist mit Vorsicht zu behandeln. Die neuen Staaten sind nach so vielen Jahrzehnten der Unabhängigkeit schon für sich selbst verantwortlich. Bad Governance, schlechtes Regieren, kann man nicht mehr nur und vor allem nur noch marginal auf die Kolonisation zurückführen. SN: Warum ist asiatischen Staaten im Gegensatz zu Entwicklungsländern in Afrika der Sprung nach vorn gelungen? Das hat zum Teil Gründe, die gar nichts mit den Kolonialmächten zu tun haben. Das hat zu tun mit dem Wertesystem, mit dem, was man für die Erziehung der Kinder tut, auch mit dem Arbeitsethos. Es ist kein Zufall, dass an Amerikas Elite-Universitäten unter den besten zehn Absolventen stets sieben oder acht Asiaten sind. SN: Für Chinas großen Reformer Deng Xiaoping ist einst Singapur das Vorbild gewesen. Mittlerweile baut China seine Macht in der asiatischen Region aus, neuerdings mit dem Projekt der Neuen Seidenstraße. Was sind die Ziele dieses Vorhabens? Die Neue Seidenstraße, so wie Präsident Xi Jinping sie heute definiert, hat einen Umfang von 1000 Milliarden Dollar. Das ist wahrscheinlich das größte Entwicklungsprojekt überhaupt in der Geschichte der Menschheit. Die Chinesen sprechen in diesem Kontext gerne von einer Art Marshallplan, also einer Form der selbstlosen Hilfe für die Nachbarländer. Aber in Pekings Perspektive ist auch ein Stück eines Programms zur Welteroberung. Sicher enthält diese InfrastrukturInitiative sehr sinnvolle Dinge, nämlich Straßen, Schienenstränge, Häfen. Aber wenn man genauer hinschaut, erkennt man auch ein neokoloniales Programm, weil es die betroffenen Länder wie Pakistan oder Kambodscha abhängig machen soll. Dieses Ziel wird natürlich nicht offen ausgesprochen. Aber es gibt keinen Zweifel, dass Präsident Xi Jinping sich als Führer einer Weltmacht sieht und dass Peking die Projekte der Neuen Seidenstraße als Mittel betrachtet, seinen globalen Einfluss auszudehnen. SN: Könnte es sein, dass Peking mit diesem hochambitionierten Vorhaben sein Blatt überreizt hat? Malaysia hat jüngst ja Projekte mit Peking abgesagt. In einzelnen Ländern gibt es direkte Vorbehalte gegen die Chinesen, etwa im zentralasiatischen Kasachstan. Denn die kommen mit ihren eigenen Arbeitskräften, sie schaffen also keine Arbeitsplätze und fördern folglich oft die Wirtschaft nicht so, wie sie es versprochen haben. Die Chinesen arbeiten teilweise mit korrupten Eliten zusammen, was in manchen Staaten zu einer Gegenbewegung führt. Hinzu kommen die bisweilen desaströsen finanziellen Folgen von Projekten: In Sri Lanka haben die Chinesen den Hafen, in den sie investiert haben, einfach selbst übernommen, als die dortige Regierung geliehene Gelder nicht mehr zurückzahlen konnte. Doch bis jetzt die Neue Seidenstraße noch eine Erfolgsgeschichte. SN: Ist demnach Chinas Vormarsch in Asien unaufhaltsam? Interessanterweise hat sich Indien an der Neuen Seidenstraße nicht beteiligt. Die Gegenbewegungen zu dieser Initiative werden an Gewicht gewinnen. Doch kein Weg dürfte vorbeiführen an Chinas Aufstieg zur Weltmacht, wahrscheinlich auch zur Weltmacht Nr. 1. Die USAmerikaner verabschieden sich zunehmend von ihrer weltpolitischen Rolle. Auf der Seite Chinas hingegen gibt es große Zielstrebigkeit. Pekings Plan ist es, bis zum Jahr 2025 im Grunde in allen Zukunftsindustrien führend sein zu wollen, etwa in der Künstlichen Intelligenz. Das wird stattfinden, weil die Chinesen den längeren Atem haben.