„Die Demokratie wird überleben“
Der Politikwissenschafter Wolfgang Merkel über Sebastian Kurz, den Populismus der Mitte und einen Dinosaurier namens Sozialdemokratie.
Die SPÖ stehe im Vergleich zu anderen sozialdemokratischen Parteien in Europa noch gut da, sagte der Professor an der HumboldtUniversität Berlin kürzlich bei einer Fachtagung auf Schloss Eckartsau. Aber: Etablierte Mitte-links-Parteien würden das 21. Jahrhundert in dieser Form nicht überleben. Auch Demokratien müssten neu gedacht werden. SN: Sie sprechen hier in Eckartsau über die „Herausforderungen der Demokratie im 21. Jahrhundert“. Welche sind die größten?
Wolfgang Merkel: Erstens Globalisierung: Sie entmächtigt die Handlungsfähigkeit demokratischer Nationalstaaten. Zweitens die sozioökonomische Ungleichheit: Sie unterspült das Gleichheitsprinzip der Demokratie. Drittens ethnisch-religiöse Heterogenitäten: Je unterschiedlicher Gesellschaften werden, umso größer muss die politische Integrationsleistung sein. Viertens fortschreitender Vertrauensverlust: Das Ansehen der repräsentativen Institutionen, wie Parlament und Parteien, sinkt. Zudem ist die Sozialdemokratie in sozialen und ökonomischen Verteilungsfragen zu stark in die Mitte gerutscht. In Deutschland war sie hier zu wenig von der CDU zu unterscheiden. SN: Mit welchen Schwierigkeiten sind Sozialdemokraten im 21. Jahrhundert konfrontiert? Sie sind Dinosaurier in einer sich ständig individualisierenden Gesellschaft. Klassische Mitte-linksVolksparteien werden im 21. Jahrhundert nicht überleben. Die Annahme, dass sie wie ein Phönix aus der Asche steigen, ist falsch. Keine sozialdemokratische Partei kommt derzeit bei Wahlen stabil auf über 40 Prozent. Mit 27 Prozent steht die SPÖ dabei noch gut da. SN: Welche Lösungsstrategien gibt es für Sie? Aus strategischer Sicht müssten Sozialdemokraten verteilungspolitisch stärker nach links. In der Frage der Grenzöffnung müssen sie aber für stärkere Kontrolle eintreten – das alles wird von intensiven Bemühungen der Integration begleitet. Männer sind zudem in beinahe allen Ländern zu den Rechtspopulisten gewechselt. Diese sind aber keine Demokratieverächter. Das Ziel ist, diese Wähler zurückzugewinnen. Das Risiko ist, je öfter Protestwähler den Protest wählen, um so mehr übernehmen sie auch neue Parteiwerte. In Österreich wurden Protestwähler zu rechtspopulistischen Stammwählern. SN: Politische Parteien werden zu „Bewegungen“, „Initiativen“oder „Listen“. Was ist Ihre Meinung zur neuen Volkspartei in Österreich? Europaweit gibt es Erfolge wie jene des Movimento Cinque Stelle (Anm: Fünf-Sterne-Bewegung) in Italien oder Podemos (Anm: „Wir können“) in Spanien. Die Liste Kurz ist eigentlich keine Bewegung, aber Sebastian Kurz signalisiert Distanz zur Parteiform. Die Parteiführung wird zudem nach innen autoritärer. Man könnte es wie bei Emmanuel Macron einen Populismus der Mitte nennen. SN: Sie prägen den Begriff der „defekten Demokratie“. Was verstehen Sie darunter? Untere Schichten bleiben freien Wahlen häufig fern. Die liberalen Individualrechte werden zu wenig geschützt. Das verändert die politische Kultur, polarisiert die Gesellschaft, und die Tendenz, Gruppen auszuschließen, steigt. Demokratie muss aber Inklusion sein. Ohne das Prinzip der Gleichheit werden Demokratien defekt. In Ungarn und Polen etwa wird Demokratie illiberalisiert. Dies wird legitimiert im falschen Rückgriff auf Volkssouveränität. SN: Politik ist auch Show zwischen Provokation und Inszenierung. Wie denken Sie darüber? Bei populistischen Machtopportunisten wie im Weißen Haus erleben wir einen permanenten Tabubruch. Das sichert Medienpräsenz. Wer das in den 1980er-Jahren meisterhaft begonnen hat, war Jörg Haider. US-Präsident Donald Trump treibt diese Provokation derzeit auf die Spitze. Dieser Trend zahlt sich, selbst mit Negativschlagzeilen, wahlpolitisch aus. Das mächtigste Land der Welt wird von einem Mann regiert, der die Direktiven in Tweets mitteilt. SN: Welche Maßnahmen können gegen diesen „Provokationstrend“getroffen werden? Diskurse müssen auch öffentlich und nicht nur im digitalen Schatten ablaufen. Wenn Politik nur noch Show und Provokation wird, ist die Gefahr der Manipulation hoch. Medien müssen aufpassen, das Volk nicht zu bevormunden. SN: Wie sehen Sie die Entwicklung der EU? Die Integration wird nicht vertieft werden. Der Traum, sich als EU zu erweitern, war von Anfang an eine Illusion. Die EU sollte sich konsolidieren, da die Kosten eines Auseinanderbrechens exorbitant wären. SN: Abschließend: Demokratie ist für Sie? Die beste Regierungsform – Demokratie wird überleben.
Wolfgang Merkel: Geboren 1952 in Bayern, studierte politische Wissenschaft, Geschichte und Sportwissenschaft an der Universität Heidelberg. Der Preisträger der Fritz-Thyssen-Stiftung war von 1997 bis 1998 Direktor des Instituts für Politikwissenschaft an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Ab 2002 war Merkel wissenschaftlicher Berater von Ministerpräsident Kurt Beck und wurde 2004 Direktor der Abteilung „Demokratien: Strukturen, Leistungsprofil und Herausforderungen“am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB). Wolfgang Merkel arbeitet als Professor am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität Berlin. Kürzlich sprach er über Herausforderungen der Demokratie im 21. Jahrhundert bei der Tagung „1918–1938–2018: Dawn of an Authoritarian Century?“