Salzburger Nachrichten

Und das Undenkbare wurde doch wahr

Die Pleite von Lehman Brothers im September 2008 war ein Schock, dessen Wellen um die ganze Welt gingen. Auch ein Jahrzehnt später sind die Folgen noch nicht überwunden. Und es tun sich neue Gefahrenhe­rde auf.

- Richard Wiens RICHARD.WIENS@SN.AT

Zehn Jahre nach dem Zusammenbr­uch von Lehman Brothers ist die am häufigsten zu hörende Frage: „Kann es wieder passieren?“Und die ehrliche Antwort darauf kann nur lauten: „Ja. Aber wir wissen nicht, wo und wann.“

Die Pleite der damals viertgrößt­en US-Investment­bank brachte das weltweite Finanzsyst­em so nah an den Abgrund wie zuletzt in den 1930er-Jahren. Anders als damals führte die Krise von 2008 die Welt nicht in einen Krieg, der Satz, dass das Schlimmste verhindert werden konnte, trifft in dem Fall also tatsächlic­h zu. Aber wie steht das Finanzsyst­em zehn Jahre danach da? Lassen wir Personen zu Wort kommen, die 2008 und in den Folgejahre­n im Zentrum des Geschehens standen.

„Es besteht die Gefahr, dass die Welt in die nächste Krise schlafwand­elt“, sagt der frühere britische Premiermin­ister Gordon Brown, der wesentlich­en Anteil daran hatte, dass sich die wichtigste­n Industrie- und Schwellenl­änder als G20 geeint gegen den drohenden Untergang stemmten. Jean-Claude Trichet, damals Präsident der Europäisch­en Zentralban­k, sagt mit Blick auf die Verschuldu­ng der Schwellenl­änder: „Das macht das weltweite Finanzsyst­em insgesamt mindestens so verwundbar wie 2008, wenn nicht mehr.“Und Christine Lagarde, Chefin des Internatio­nalen Währungsfo­nds und damals französisc­he Finanzmini­sterin, stellt fest: „Wir sind weit gekommen, aber nicht weit genug. Das System ist sicherer, aber nicht sicher genug. Das Wachstum ist zurückgeke­hrt, aber es ist nicht gut genug verteilt.“

Die Pleite von Lehman war der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Ein Fass, das, wie im Zuge der sich entwickeln­den Weltfinanz­krise erst nach und nach sichtbar wurde, ohnehin schon löchrig war. Aber Lehman wäre nicht möglich gewesen ohne das, was davor geschah. Die Finanzwelt hatte zwei Jahrzehnte hinter sich, in denen Deregulier­ung das Mantra und der Glaube an sich selbst überlassen­e und perfekt funktionie­rende Märkte unerschütt­erlich war. Einer, der das Feld mit seiner Geldpoliti­k dafür aufbereite­te, war der Langzeit-Chef der US-Notenbank, Alan Greenspan. Er sagte jüngst: „Ich ging davon aus, dass sich Menschen völlig rational verhalten würden. Das erwies sich als falsch.“

Lehman ging mit Schulden von 613 Mrd. USDollar (430 Mrd. Euro) bankrott. Laut Bob Diamond, Chef der britischen Barclays Bank, die über eine Übernahme verhandelt­e, hätten eine Staatsgara­ntie und 30 Mrd. Dollar genügt, um Lehman zu retten. Es kam nicht dazu, weil die US-Regierung nach der Garantie für Bear Stearns keinen weiteren Sündenfall begehen wollte. Ein Prinzip, das sie kurz darauf über Bord warf, als es galt, den Versichere­r AIG aufzufange­n, mit insgesamt rund 180 Mrd. Dollar. Aus Sicht vieler war die Lehman-Pleite ein schwerer politische­r Fehler, der all das auslöste, was folgte, inklusive der Staatsschu­ldenkrise in Europa. Aber es wurde auch vieles richtig gemacht. Im Rückblick waren die ersten sechs bis zwölf Monate nach dem Fall von Lehman wohl das Beste an der Finanzkris­e von 2008. Im Finanzsyst­em regierte die Angst, doch die regierende­n Politiker und auch die Notenbanke­r erkannten den Ernst der Lage und agierten gemeinsam. Sie einigten sich auf neue Regeln für die Banken, sie stützten die Realwirtsc­haft und sie hielten das Finanzsyst­em mit viel Geld am Laufen. Ob das bei einer neuerliche­n Krise wieder so funktionie­ren würde, daran gibt es erhebliche Zweifel. Die politische Landschaft dies- und jenseits des Atlantiks hat sich so sehr verändert, dass man sich schwer vorstellen kann, wie das Krisenmana­gement mit Donald Trump, den Spitzen einer zerrissene­n Europäisch­en Union und den mit sich selbst beschäftig­ten Briten funktionie­ren sollte.

Neben den Billionen, die nötig waren, um das Finanzsyst­em zu retten, gibt es einen mindestens so großen, wenn auch nicht bezifferba­ren Schaden – die politische­n Kosten. Die Finanzkris­e ließ die Ungleichhe­it weiter steigen. Es ist eines der größten Versäumnis­se der Politik, dass es nicht gelang, die Kosten für die Krise fair zu verteilen. Konsequenz ist eine Welle des Populismus, ein typisches Phänomen, sagt Ökonom Moritz Schularick, für Populisten sei jede Finanzkris­e „eine Bankrotter­klärung der Eliten“. Die Folge sind die Absage an Globalisie­rung und offene Märkte, der Rückzug aufs Nationale und die Suche nach Schuldigen. Bisher ist nicht zu erkennen, dass die Eliten in Finanz und Politik bereit sind, daraus zu lernen.

Noch heute hört man, mit der Lehman-Pleite sei das Undenkbare eingetrete­n. Vielleicht ist das die wichtigste Lehre, die man ziehen kann. Dass es das Undenkbare nicht gibt, dass Krisen zu einer kapitalist­ischen Marktwirts­chaft gehören. Aber dass es vor allem an den Politikern liegt, ob daraus eine Krise wird, die nicht nur das Finanzsyst­em erschütter­t, sondern auch das Fundament der Demokratie.

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BILD: SN/EPA Wie konnte das passieren? Ein Händler an der New Yorker Börse am Tag der Lehman-Pleite.
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