Und das Undenkbare wurde doch wahr
Die Pleite von Lehman Brothers im September 2008 war ein Schock, dessen Wellen um die ganze Welt gingen. Auch ein Jahrzehnt später sind die Folgen noch nicht überwunden. Und es tun sich neue Gefahrenherde auf.
Zehn Jahre nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers ist die am häufigsten zu hörende Frage: „Kann es wieder passieren?“Und die ehrliche Antwort darauf kann nur lauten: „Ja. Aber wir wissen nicht, wo und wann.“
Die Pleite der damals viertgrößten US-Investmentbank brachte das weltweite Finanzsystem so nah an den Abgrund wie zuletzt in den 1930er-Jahren. Anders als damals führte die Krise von 2008 die Welt nicht in einen Krieg, der Satz, dass das Schlimmste verhindert werden konnte, trifft in dem Fall also tatsächlich zu. Aber wie steht das Finanzsystem zehn Jahre danach da? Lassen wir Personen zu Wort kommen, die 2008 und in den Folgejahren im Zentrum des Geschehens standen.
„Es besteht die Gefahr, dass die Welt in die nächste Krise schlafwandelt“, sagt der frühere britische Premierminister Gordon Brown, der wesentlichen Anteil daran hatte, dass sich die wichtigsten Industrie- und Schwellenländer als G20 geeint gegen den drohenden Untergang stemmten. Jean-Claude Trichet, damals Präsident der Europäischen Zentralbank, sagt mit Blick auf die Verschuldung der Schwellenländer: „Das macht das weltweite Finanzsystem insgesamt mindestens so verwundbar wie 2008, wenn nicht mehr.“Und Christine Lagarde, Chefin des Internationalen Währungsfonds und damals französische Finanzministerin, stellt fest: „Wir sind weit gekommen, aber nicht weit genug. Das System ist sicherer, aber nicht sicher genug. Das Wachstum ist zurückgekehrt, aber es ist nicht gut genug verteilt.“
Die Pleite von Lehman war der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Ein Fass, das, wie im Zuge der sich entwickelnden Weltfinanzkrise erst nach und nach sichtbar wurde, ohnehin schon löchrig war. Aber Lehman wäre nicht möglich gewesen ohne das, was davor geschah. Die Finanzwelt hatte zwei Jahrzehnte hinter sich, in denen Deregulierung das Mantra und der Glaube an sich selbst überlassene und perfekt funktionierende Märkte unerschütterlich war. Einer, der das Feld mit seiner Geldpolitik dafür aufbereitete, war der Langzeit-Chef der US-Notenbank, Alan Greenspan. Er sagte jüngst: „Ich ging davon aus, dass sich Menschen völlig rational verhalten würden. Das erwies sich als falsch.“
Lehman ging mit Schulden von 613 Mrd. USDollar (430 Mrd. Euro) bankrott. Laut Bob Diamond, Chef der britischen Barclays Bank, die über eine Übernahme verhandelte, hätten eine Staatsgarantie und 30 Mrd. Dollar genügt, um Lehman zu retten. Es kam nicht dazu, weil die US-Regierung nach der Garantie für Bear Stearns keinen weiteren Sündenfall begehen wollte. Ein Prinzip, das sie kurz darauf über Bord warf, als es galt, den Versicherer AIG aufzufangen, mit insgesamt rund 180 Mrd. Dollar. Aus Sicht vieler war die Lehman-Pleite ein schwerer politischer Fehler, der all das auslöste, was folgte, inklusive der Staatsschuldenkrise in Europa. Aber es wurde auch vieles richtig gemacht. Im Rückblick waren die ersten sechs bis zwölf Monate nach dem Fall von Lehman wohl das Beste an der Finanzkrise von 2008. Im Finanzsystem regierte die Angst, doch die regierenden Politiker und auch die Notenbanker erkannten den Ernst der Lage und agierten gemeinsam. Sie einigten sich auf neue Regeln für die Banken, sie stützten die Realwirtschaft und sie hielten das Finanzsystem mit viel Geld am Laufen. Ob das bei einer neuerlichen Krise wieder so funktionieren würde, daran gibt es erhebliche Zweifel. Die politische Landschaft dies- und jenseits des Atlantiks hat sich so sehr verändert, dass man sich schwer vorstellen kann, wie das Krisenmanagement mit Donald Trump, den Spitzen einer zerrissenen Europäischen Union und den mit sich selbst beschäftigten Briten funktionieren sollte.
Neben den Billionen, die nötig waren, um das Finanzsystem zu retten, gibt es einen mindestens so großen, wenn auch nicht bezifferbaren Schaden – die politischen Kosten. Die Finanzkrise ließ die Ungleichheit weiter steigen. Es ist eines der größten Versäumnisse der Politik, dass es nicht gelang, die Kosten für die Krise fair zu verteilen. Konsequenz ist eine Welle des Populismus, ein typisches Phänomen, sagt Ökonom Moritz Schularick, für Populisten sei jede Finanzkrise „eine Bankrotterklärung der Eliten“. Die Folge sind die Absage an Globalisierung und offene Märkte, der Rückzug aufs Nationale und die Suche nach Schuldigen. Bisher ist nicht zu erkennen, dass die Eliten in Finanz und Politik bereit sind, daraus zu lernen.
Noch heute hört man, mit der Lehman-Pleite sei das Undenkbare eingetreten. Vielleicht ist das die wichtigste Lehre, die man ziehen kann. Dass es das Undenkbare nicht gibt, dass Krisen zu einer kapitalistischen Marktwirtschaft gehören. Aber dass es vor allem an den Politikern liegt, ob daraus eine Krise wird, die nicht nur das Finanzsystem erschüttert, sondern auch das Fundament der Demokratie.